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© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen
ISBN Print: 9783847111658 – ISBN E-Lib: 9783737011655
genommenwerdenundwelches die individuellen, sozialen oder auch histori-
schenUrsacheneinersolchenWahrnehmungdieserPhänomenealsgerechtoder
ungerechtsind.Siewollenalsodieindividuellenund/odersozialenBedingungen
derGeneseeinesUrteilsüberdieGerechtigkeitoder ihrFehlenherausarbeiten.
Andererseits streben sie nach einer Erklärung dafür, was für individuelle und
sozialeKonsequenzendieAnerkennungbestimmter Situationenals ungerecht
hat. Letztendlich suchen sie nach einerAntwort auf die Frage,warumdieGe-
rechtigkeit fürdieGesellschaft sowichtig ist24.
Es muss betont werden, dass die Gerechtigkeit vor allem eine moralische
Kategorie ist undals solche seitBeginnderGeschichtedesmenschlichenDen-
kens einen Gegenstand philosophischer Reflexion darstellt. Die Philosophen
verfügen über ein entsprechendes analytisches Instrumentarium, das uner-
lässlich ist,umaufdienotwendigenVeränderungeninderFragederVerteilung
der Güter und Lasten in der Gesellschaft hinzuweisen. Auf dem Boden der
Philosophie kanndann auch eine entsprechendeDistanz zu denwechselnden
Bedingungengewahrtwerden.Daherkanneinegewisse„Ignoranz“inBezugauf
die sozio-ökonomischenDetails und den künftigen Status der einzelnen Per-
sonen, die von JohnRawls als „Schleier desNichtwissens“ (veil of ignorance)
bezeichnet wird, paradoxerweise eine Objektivierung der Festlegung der Ge-
rechtigkeitskriterienbegünstigen.
In denWissenschaften, die sichmit einemnormativenHerangehen an die
Gerechtigkeit befassen, gibt es eine Skepsis, was denWert empirischer Ge-
rechtigkeitsforschung durch die Sozialwissenschaften betrifft, zumindest aber
wird für Vorsicht gegenüber deren Ergebnissen plädiert. Das amHäufigsten
vorgebrachteArgumentbetrifft dieBefürchtungvoreinemStrebennachnatu-
ralistischemFehlschluss,d.h.dassdiemoralischenNormenunmittelbarausden
aktuellenÜberzeugungen der Gesellschaft abgeleitet werden. Die führenden
Spezialisten auf demGebiet der Gerechtigkeitssoziologie, die diese Vorwürfe
zurückweisen, wissen die Bedeutung der philosophischenGerechtigkeitstheo-
rienzuschätzen.WieStefanLiebigundCarstenSauerunterstreichen,dieeinen
Gedanken von Pmile Durkheim zitieren, kann die soziologische Sicht auf die
Gerechtigkeit nicht auf die Berücksichtigung normativerDiskurse verzichten,
wie siederPhilosophie zueigen sind, „weil die zumAusdruckgebrachtenAn-
sichten Informationen darüber liefern, wie die Gerechtigkeit in einem be-
stimmtenMoment inderGesellschaftverstandenwird“25. Indersoziologischen
Gerechtigkeitsforschungen geht es also nicht um eine Entscheidung über die
24 Stefan Liebig / Carsten Sauer / Peter Valet, Gerechtigkeit, in: Steffen Mau / Nadine M.
Schöneck (Hg.),HandwörterbuchzurGesellschaftDeutschlands,Wiesbaden2013, S. 286–
299,hier: S. 286–287.
25 StefanLiebig/CarstenSauer,SociologyofJustice,in:ClaraSabbagh/ManfredSchmitt(Hg.),
HandbookofSocialJusticeTheoryandResearch,PartI.,NewYork2016,S. 37–59,hier:S. 52.
DieBedeutungempirischerGerechtigkeitsforschung fürdieSozialethik 73
Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
Menschenrechte und Gerechtigkeit als bleibende Aufgaben
Beiträge aus Religion, Theologie, Ethik, Recht und Wirtschaft
- Titel
- Menschenrechte und Gerechtigkeit als bleibende Aufgaben
- Untertitel
- Beiträge aus Religion, Theologie, Ethik, Recht und Wirtschaft
- Autoren
- Irene Klissenbauer
- Franz Gassner
- Petra Steinmair-Pösel
- Herausgeber
- Peter G. Kirchschläger
- Verlag
- Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-7370-1165-5
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 722
- Kategorie
- Recht und Politik