Seite - 101 - in Menschenrechte und Gerechtigkeit als bleibende Aufgaben - Beiträge aus Religion, Theologie, Ethik, Recht und Wirtschaft
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© 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen
ISBN Print: 9783847111658 – ISBN E-Lib: 9783737011655
FürLevinassindseineAnalysen imSchnittfeldzwischenAnthropologieund
Messianismus zugleich Ausgangspunkt für einen ganz eigenen Zugang zum
Verständnis von Verantwortung: Diese sei „an-archisch“, ohne Anfang (gr.
arch8) in einer vermeintlich autonomen Entscheidung des Subjekts. Dieses
entdecke sich selbst vielmehr erst in der sozialen Begegnung, wenn diese ihn
schon inAnspruch genommenund über sich selbst hinaus verwiesen habe.31
Moral entsteht responsorisch alsAntwort auf dieErfahrungdes Sollens inder
Begegnungmit demNächsten. Indem diese einen Perspektivenwechsel indu-
ziert,befreitsiedenMenschenvonderSelbstbezüglichkeithinzurAnerkennung
desAnderenumseiner selbstwillen. Für Levinas ist das derKerndessen,was
Menschsein imSinnevonHumanität ausmacht.
DieserZuganglässtsichchristologischundmoraltheoretischvertiefen:32Die
christlicheZusage,vonGottvorgängigzujederLeistunggeliebtzusein,undaus
dem Bewusstsein dieser Anerkennung heraus die Selbstfixierung loszulassen
undsouveränzuwerden, istderKerndeschristlichenGlaubens. Siebefreitdie
theologischeDimensionder Ethik aus demDunstkreis derWerkgerechtigkeit,
die letztlichauf eine theologische InstrumentalisierungvonHeilsangsthinaus-
läuft, hin zum Vorrang der Gnade. Die theologische Dimension christlicher
Ethikbestehtnicht inderautoritativenBelohnung fürWohlverhalten, sondern
inderbedingungslosenundvorgängigenAnerkennungundLiebealsErmögli-
chungvonFreiheitundÜberwindungsklavischerHeilsangst. Sie transformiert
die Ethik von der Logik derUnterwerfung unter einen generalisierten Sitten-
kodexhin zu einerMoral, die auf einHandelnaus souveränerFreiheit, Selbst-
achtungundLebensfreudezielt.
DieserHintergrunddesbiblischenMenschen-undGottesbildes,dasgeteilte
jüdisch-christlicheTradition ist, verleihtdemSozialprinzipderPersonalität als
dem wichtigsten Angelpunkt Christlicher Sozialethik eine sinnstiftende Tie-
fendimension. Diese ist zugleich eine starke Motivationsquelle für gelebte
Menschenrechtsethik.Die spezifische religiöseKompetenz liegt dabei nicht in
derDeduktionmoralischer Imperativeaus theologischenPrämissen(das istes,
wasJoasals„Moralagentur“karikiert),sonderninDeutungenundErzählungen
31 DieCharakterisierungderVerantwortungals„an-archisch“isteingelungenesWortspielmit
der Doppelbedeutung von „anfangslos“ und „herrschaftskritisch“: Wer Verantwortung
übernimmt, ist keinBefehlsempfänger, sondernhandelt aus eigenerÜberzeugungundSi-
tuationswahrnehmung.ZugleichgehtLevinasüberdasAutonomiekonzeptderAufklärung,
fürdasdasSubjektderabsoluteAusgangspunktderMoral ist,hinausundistdamitkritisch
gegenüber individualistischverkürztenMoralkonzepten. Freiheit wirdhier nicht als axio-
matischeVoraussetzungvonVerantwortunggedacht, sondernalsErgebnis ihrerPraxis; sie
ist vor-ursprünglich zur autonomenWillensentscheidung des Subjekts; vgl. Levinas, Hu-
manismus,S. 61–83.
32 Vgl.Dausner,Christologie, S. 357–367.
ZumStellenwert theologischerArgumente 101
Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
Menschenrechte und Gerechtigkeit als bleibende Aufgaben
Beiträge aus Religion, Theologie, Ethik, Recht und Wirtschaft
- Titel
- Menschenrechte und Gerechtigkeit als bleibende Aufgaben
- Untertitel
- Beiträge aus Religion, Theologie, Ethik, Recht und Wirtschaft
- Autoren
- Irene Klissenbauer
- Franz Gassner
- Petra Steinmair-Pösel
- Herausgeber
- Peter G. Kirchschläger
- Verlag
- Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-7370-1165-5
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 722
- Kategorie
- Recht und Politik