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Pathos der Distanz – die Etablierung der zentralen Hofloge im Theaterbau (1600–1750)
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mit der Herrscherestrade im Parterre eines fürstlichen Theaters teilte. Diesen Vorzug
beanspruchte die resignierte Monarchin für ihre Person und machte durch die Über-
tragung ephemerer Insignien an diesen Ort ihre majestas indelibilis anschaulich. Papst
Clemens
IX., der das Tordinona 1669 lizensiert hatte, sein Nachfolger und die Kurie sa-
hen keinen Anlass für Einwände, weil DʼAliberts wirtschaftlich geführtes Unternehmen
keine hoheitliche Funktion besaß und das politische Interesse an der Konversion der
Schwedin mögliche Bedenken überwog. Ihr Auftritt in beiden Logen im Theater und
am Corso wie auch deren ungewöhnliche Form wurden toleriert, weil die Öffentlich-
keit dieser Orte noch nicht einschränkend zugunsten des Souveräns reguliert war und
insofern als Lücke für Christinas zwangsläufig privat gewordene Interessen instru-
mentalisiert werden konnte. Zudem blieb das Verhältnis der Päpste gegenüber solchen
elitären oder volkstümlichen Amusements stets distanziert und schwankte zwischen
laissez faire und rigider Kontrolle.
Die Virulenz der zentralen Rangloge im Theater beweisen die Pläne eines »per or-
dine della regina« durch Fontana geplanten vergrößerten Neubaus des Tordinonasaals,
seine folgenreichste inventione,38 die in einer schwedischen Kopie des 18.
Jahrhunderts
von Carl Frederik Adelcrantz in Stockholm, angehängt zwei alternative Lösungen für
einen kreisrunden, stärker abgegrenzten Logenbezirk für Christina, seit längerem be-
kannt ist.39 Sie wurde in zwei ebenfalls nie realisierten Hoftheaterprojekten seines
Schülers Nicodemus Tessin d. J. für ein Opernhaus im Schloss Amalienborg in Kopen-
hagen, 1693, und wenige Jahre später im größeren Maßstab seines »förslag« zu einem
Opernhaus am Stockholmer Schloss, 1697 unmittelbar rezipiert.40 An die von Fontana
alternativ zum zentralen Logenpavillon im Scheitel vorgeschlagene, um mehrere Stu-
fen erhöhte Estrade schließt eine erst 1994 aus einem Album des Kreises um Filippo
Juvarra publizierte Variante an (Abb. 4).41 Auf dem Grundriss sind die Sehstrahlen aus
allen Logen auf den mittleren Platz auf der Saalachse ausgerichtet und machen das
Blatt zum frühesten Dokument für die konsequente Ausrichtung eines Logensaals »à
la façon vénitienne« auf den wichtigsten Zuschauerplatz. Das Tordinona wurde »the
earliest instance of an attempt to make a court theatre out of the box theatre«.42 Es steht
dahin, ob Fontana diese Idee der Auftraggeberin vorbehalten wollte oder ob er schon
ihre allgemeine Brauchbarkeit für Ehrensitze in höfisch kontrollierten Sälen im Sinn
hatte. Es bleibt festzuhalten, dass Christina selbst den jüngeren Tessin in die Werkstatt
38 Rotondi 2006, S. 162–165.
39 Bjurström 1966, S. 109–112; Rotondi 1987, S. 15. Als einfacher, rechteckiger Kastenraum springt da-
gegen der »palco che fa trono« im Scheitel des für Christina geplanten Theatersaals im Palaazzo Riario
in Rom vor die Rangkurve, Rotondi 1987, S. 19, Abb. 20; Biermann 2012, S. 190.
40 Josephson 1922; Josephson 1924, S. 66–67; Josephson 1931, Bd. 2, S. 85–96; Donnelly 1984, S. 330,
S.
332.
41 Barghini 1994, S. 110, fol.
93r.
42 Bjurström 1966, S. 109.
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Musiktheater im höfischen Raum des frühneuzeitlichen Europa
Hof – Oper – Architektur
- Titel
- Musiktheater im höfischen Raum des frühneuzeitlichen Europa
- Untertitel
- Hof – Oper – Architektur
- Autoren
- Margret Scharrer
- Heiko Laß
- Herausgeber
- Matthias Müller
- Verlag
- Heidelberg University Publishing
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-SA 4.0
- ISBN
- 978-3-947732-36-4
- Abmessungen
- 19.3 x 26.0 cm
- Seiten
- 618
- Schlagwörter
- Kunstgeschichte, Architektur, Oper, art history, architecture, opera
- Kategorie
- Kunst und Kultur