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Carlos María Solare
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exemplar (suelta de lujo), das Philipp IV. seinem Schwiegervater Kaiser Ferdinand III.
schenkte. Darin enthalten sind Calderóns Text, die Partitur, zehn Zeichnungen der Büh-
nenbilder aus der Feder Baccio del Biancos und ein anonymer Text, der den Verlauf der
Uraufführung beschreibt.33 Zum ersten und einzigen Mal im Repertoire des spanischen
Hoftheaters sind wir nicht auf Beschreibungen der Musik und der szenischen Abläufe
angewiesen, sondern können die Partitur lesen und genau sehen, wie die Bühnenbilder
aussahen.
Calderón durchdachte die Rolle der Musik in seinen Theaterstücken jedes Mal neu,
insbesondere in seinen fiestas mitológicas. Mit La fiera, el rayo y la piedra tat er einen
großen Vorwärtsschritt bezüglich der Integration der Musik in die Handlung. Bis da-
hin hatte es Musik vor allem in Form von eingeschobenen Liedern und Tanzstücken
gegeben, die von der Handlung mehr oder weniger motiviert waren: Der Auftritt eines
Königs wurde von Pauken und Trompeten angekündigt, ländliche Instrumente dienten
zur Erschaffung einer bäuerlichen Atmosphäre. Das alles gibt es weiterhin, aber zu-
sätzlich dazu benutzt Calderón in La fiera, el rayo y la piedra zum ersten Mal Musik als
Handlungsträger in Dialogszenen. Dafür griffen er und sein musikalischer Mitarbeiter,
der Komponist Juan Hidalgo, auf den im Zusammenhang mit La selva sin amor bereits
angesprochenen stile recitativo italienischer Prägung zurück.
Calderón begnügte sich nicht damit, einfach das Rezitativ aus der italienischen
Operntradition zu übernehmen, sondern dachte ihm eine bestimmte Rolle in der Dra-
maturgie seiner fiestas mitológicas zu: Er machte es zur Ausdrucksform der Gottheiten.
Wenn sich Götter im Himmel miteinander unterhalten, tun sie dies in Form von gesun-
genem Rezitativ und in den dafür typischen Versmaßen: sieben- und elfsilbigen Versen
in freiem Wechsel. In Calderóns musikalischer Weltordnung sind die Menschen jedoch
nicht fähig, diese göttliche Sprache zu verstehen; deshalb müssen sie in einer ihnen
verständlichen Sprache
– die der volkstümlichen Musik
– angesprochen werden. Dem-
entsprechend greifen die Götter, um sich mit Sterblichen zu unterhalten, auf die tradi-
tionellen Verse und Formschemata der spanischen comedia zurück: Als etwa der Gott
Anteros sich im zweiten Akt von La fiera, el rayo y la piedra an Anajarte wendet, tut er
dies in Achtsilbern und in der typischen Form einer tonada, bestehend aus mehreren
coplas mit estribillo.34 Das überlieferte Textbuch einer Aufführung aus dem Jahr 1690
lässt zudem erkennen, dass Anajartes Einwürfe zwischen den von Anteros gesungenen
Strophen gesprochen wurden. Bei der letzten Wiederholung des Refrains steht in den
33 Das Manuskript befindet sich heute in The Houghton Library, Harvard University. Der Text, die Zeich-
nungen und ein Faksimile der Partitur wurden 1994 vom Museo Nacional del Teatro von Almagro pub-
liziert: Calderón de la Barca 1994. Obwohl die Quelle den Titel in der verkürzten Form angibt, wird
hier die vollständige Fassung bevorzugt (Fortunas de Andrómeda y Perseo), um Verwechslungen mit dem
auto sacramental zu vermeiden, das ebenfalls Andrómeda y Perseo heißt.
34 In einer Quelle wird der Text dieses Monologs als »Tonada de Anteros en la Fiera el Rayo y la Piedra«
bezeichnet. Vgl. Stein 1993, S. 138.
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Musiktheater im höfischen Raum des frühneuzeitlichen Europa
Hof – Oper – Architektur
- Titel
- Musiktheater im höfischen Raum des frühneuzeitlichen Europa
- Untertitel
- Hof – Oper – Architektur
- Autoren
- Margret Scharrer
- Heiko Laß
- Herausgeber
- Matthias Müller
- Verlag
- Heidelberg University Publishing
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-SA 4.0
- ISBN
- 978-3-947732-36-4
- Abmessungen
- 19.3 x 26.0 cm
- Seiten
- 618
- Schlagwörter
- Kunstgeschichte, Architektur, Oper, art history, architecture, opera
- Kategorie
- Kunst und Kultur