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YII. Die Staats- und Gesellschaftswissenschaften. 37
VII. Die Staats- und Gesellschaftswissenschaften.
Staatund Gesellschaft bilden den Gegenstand mehrerer Wissenschaften, denen
die Bürgerkunde ihren Stoff entnimmt. Im klassischen Altertum wurden diese
Wissenschaften noch ungeschieden zusammen mit den Fragen der Weltweisheit
von den Philosophen behandelt^). Die mittelalterliche Weltanschauung faßt die ein-
zelnen Staaten nur als Glieder des in der Kirche geeinten Verbandes der abend-
ländischen Christenheit auf. Die großen Kultiu-aufgaben, die gegenwärtig dem
Staat zufallen, wiu*den damals von der Kirche in ihre Obhut genommen. Der un-
fertige Zustand des Staates gestattete es nicht, seine wissenschaftliche Betrachtung
als einen selbständigen Wissenszweig aus der Scholastik auszulösen. Erst in der
Neuzeit haben sich zugleich mit dem modernen Staat und der staatsbürgerlichen
Gesellschaft die Staats- und Gesellschaftswissenschaften entwickelt und nach
arbeitsteiligen Gesichtspunkten gegliedert. Denn ähnlich wie in der Volkswirtschaft
wird auchim Wissenschaftsbetriebe die Leistungsfähigkeit durch eine zweckmäßige
Aufteilung in einzelne Teilgebiete gesteigert, die von den Fachmännern leichter
übersehenund daher mit größeremErfolg bearbeitet werden können. So hat sichim
Laufe des 19. Jahrhunderts diefolgende Gliederung unseresWissensgebietesergeben
Die Staatslehre vermittelt das theoretische Verständnis der Staaten
überhaupt; sie erkläi't ihr Wesen, ilu*e Zwecke, ihre Einrichtungen. Sie hat es also
nicht mit einem bestinmaten Staate zu tun, sondern erklärt auf Grund der Unter-
suchung und der geschichtlichen Entwicklung der einzelnen Staaten den Staat
überhaupt^). DasStaatsrecht— wieman anstatt des richtigerenAusdruckes
Staatsrechtslehre abkürzend zu sagen pflegt— befaßt sich mit den Staaten als
Rechtsgebilden; denn jeder Staat wird vom Rechte beherrscht und ist zugleich
selbst Schöpfer des Rechtes. Da jeder Staat sein eigenes Recht hat, so ist— im
Gegensatze zur allgemeinen und rein theoretischen Staatslehre— das Staatsrecht
eines jeden Staates positives und vom Rechte anderer Staaten mehr oder
weniger verschiedenes Recht. Die Wissenschalt hierüber ist für jeden Staat ver-
schieden, obwohlder Einfluß allgemeiner Theorienund dieÄhnlichkeitundWechsel-
wirkung der geschichtlichen Entmckelung eine gewisse Gleichförmigkeit in dem
positiven Staatsreclite der Staaten abendländischer Kultur bewirkt haben. Daher
ist hier die vergleichende Betrachtungsweise besonders lehrreich. AVofern sie zu
allgemeinen Einsichten führt, mündet sie in die Staatslehre. Wegen dieses inneren
Zusammenhanges werden Staatslelu'e und Staatsrecht oft, so auch in diesem Buche,
gemeinsam behandelt. Das Staatsrecht ghedert sich inVerfassungsrecht
und V e rw a 1 1 u ng s r e c h t, je nachdem es den Aufbau (die Organisation)
oder die Tätigkeit des Staates zur Verwirklichung seiner Zwecke betrifft^).
1) Man denke an die ,,Politeia" und an die ,,Nomoi" des Piaton (427—347) und
an die „Politik" des Aristoteles (384—322). Diese Schriften, vorzüglich die „Politik" des
Aristoteles, haben die Staatslehre bis zur Neuzeit starkbeeinflußt. Vergl. U. v.W i 1 am ow i t z-
M ö 1 1 e n d r f und B. Niese, Staat und Gesellschaft der Griechen und Römer. Berlinund
Leipzig 1910, und H an s v. A r n im, Die politischen Theorien des Altertums. Wien 1910.
— ^) Das hervorragendste, aber nur gereiftem Verständnisse zugängliche Werk hierüber aus
neuer Zeit ist die „Allgjemeine Staatslehre" von Georg Jellinek, 2. Auflage, Berlin 1905.
Eine treffliche Einführung bietet A. Esmein, Clements de droit Constitutionnel fran^ais et
compare. 5. Auflage, 1909.— ') Vergl. oben S. 23.
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Buch Österreichische Bürgerkunde"
Österreichische Bürgerkunde
- Titel
- Österreichische Bürgerkunde
- Autor
- Heinrich Rauchberg
- Verlag
- Verlag von F. Tempsky
- Ort
- Wien
- Datum
- 1911
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 16.4 x 24.0 cm
- Seiten
- 278
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918