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" X. Die Ausbildung der Verfassung. 55
soll in Zukunft nur unter Mitwirkung der gesetzlich versammelten Landtage,
beziehungsweise des Reichsrates ausgeübt werden; nur für die oben erwähnten
und ähnliche Finanzangelegenheiten wh-d ausdrücklich die Z u s t imm ung des
Reichsrates erfordert. Zwischen dem Reichsrate und den Landtagen soll die Kom-
petenz im überwiegend föderativen Sinne aufgestellt werden. Dem Reichsrate
sind jene Gegenstände der Gesetzgebung vorbehalten, die allen Königreichen und
Länderngemeinsam sind ; diese Gegenstände finden sichim Oktoberdiplomnament-
lich aufgezählt. Alle arideren Angelegenheiten werden den Landtagen zugewiesen
in den Ländern der ungarischen Krone „im Sinne ihrer früheren Verfassungen",
während in den anderen Ländern das alte ständische Verfassungsrecht in neuen
Landesordnungen hätte aufleben sollen. Die Zahl der von den Landtagen in den
Reichsrat zu entsendenden Mitglieder wurde auf 100 festgesetzt; im Verhältnisse
der Ausdehnung, Bevölkerung und Besteuerung wären sie auf die einzelnen Länder
aufgeteilt worden. Die gegenwärtige dualistische Gestaltung der Monarchie wird
dadurch vorbereitet, daß für die nicht ungarischen Länder ein engerer Reichsrat
zur Beratung solcher Angelegenheiten in Aussicht genommen wird, die nicht in
dieKompetenz des Gesamtreichsrates fallen, aber seit einerlangen Reihevon Jahren
(dm-ch die kaiserlichen Zentralstellen) gemeinsam behandelt und entschieden
worden sind.
5. Das Februarpatent.
DasProgramm, das das Oktoberdiplom für die staatsrechtliche Gestaltung der
Monarchie aufstellte, ist nicht zur Durchführung gelangt. Es scheiterte zunächst
an dem Widerstände der liberalen Partei in Ungarn. In Österreich gewann die
zentralistischeRichtung dieOberhand. Sie führte zu dem kaiserlichen Patente vom
26. Februar 1861 (Februarpatent), das sich selbst als eine Ausführung des
Oktoberdiploms einführt^). Es schafftdurchdas gleichzeitigkundgemachteGrund-
gesetz über die Reichsvertretung den aus Herrenhaus und Ab-
geordnetenliaus bestehenden Reichsrat, erläßt für die nicht ungarischen Länder
,,um die Rechte und Freiheiten der getreuen Stände dieser Königreiche und Länder
nach den Verhältnissen und Bedürfnissen der Gegenwart zu entwickeln, um-
zubilden und mit den Interessen der Gesamtmonarchie in Einklang zu bringen",
Landesordnungen und Landtagswahlordnungen und verleiht
jeder einzelnen für das betreffende Land die Kraft eines Staatsgrundgesetzes.
Diese Gesetzewerdenzusammenmit derPragmatischen SanktionunddemOktober-
diplom als die Verfassung des Reiches verkündet und angelobt. Ihr Inhalt wird
späterhin bei der Darstellung des gegenwärtig geltenden Verfassungsrechtes be-
sprochen werden"). Hier sind nur jene Punkte hervorzuheben, welche für die Fort-
bildung der Verfassung von Belang sind.
Der Reichsrat war als die Vertretung der Gesamtmonarchie gedacht. Von den
343 von den Landtagen in das Abgeordnetenhaus des Reichsrates zu entsendenden
Abgeordneten entfielen 85 aufUngarn, 9 aufKroatienund Slawonien, 26 auf Sieben-
bürgen. Gegenstände der Gesetzgebung, welche den nicht ungarischen Ländern
gemeinsam sind, gehörten zum Wnkungskreise desengeren Reichsrates,
^) Sein Entwurf rührt von dem StaatsministerAnton Ritter von Schmerling
her, deram 15.Dezember 1860anGoluchowskis Stellegetretenwar.—^)Vergl.dasXII. Kapitel.
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Buch Österreichische Bürgerkunde"
Österreichische Bürgerkunde
- Titel
- Österreichische Bürgerkunde
- Autor
- Heinrich Rauchberg
- Verlag
- Verlag von F. Tempsky
- Ort
- Wien
- Datum
- 1911
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 16.4 x 24.0 cm
- Seiten
- 278
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918