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56 X. Die Ausbildung der Verfassung.
anwelchem die Mitglieder ausdenLändern derungarischen Krone nicht teilnahmen.
Die von dem weiteren Reichsrate zu behandelnden, allen Königreichen
und Ländern gemeinsamen Angelegenheiten finden sich, ähnUch wie im Oktober-
diplom, namentlich aufgezählt; hingegengehörenzum engerenReichsrate alle Gegen-
stände der Gesetzgebung, welche nicht ausdrücklich dm-ch die Landesordnungen
den einzelnen im engeren Reichsrate vertretenen Landtagen vorbehalten sind. Da
der Kreis der Landesangelegenheiten in den Landesordnungen verhältnismäßig enge
gezogen ist, war durch jene Bestimmung der Schwerpunkt der Gesetzgebung sowohl
der Zalil als auch dem Gewichte der Gegenstände nach in den Reichsrat verlegt.
DiegleichzeitigkundgemachtenLandesordnungen sind trotzdergroßenVerschieden-
heit der Länder nach einer Schablone gearbeitet. Während die Landesstatute des
Oktoberdiploms die durch die geschichthche Entwickelung längst überwundenen
und durch die Märzverfassung von 1849 ausdrücklich aufgehobenen ständischen
Eim-ichtungen neu zu beleben versuchten, beruht die Zusammensetzung der Land-
tage und der Landesausschüsse nach dem Februarpatente auf dem Prinzip der
Interessenvertretung^). Daß sich die Verteilung der Virilstünmen und die Ab-
grenzung der Landtagskurien unverkennbar an die alte ständische GUederung an-
schließt, ist jm-istisch belanglos-).
6. Der Ausgleich mit Ungar n.^)
Die Durchfülu-ung desFebruarpatentes scheiterte andemWiderständeUngarns
und der föderalistischen Parteien Österreichs. Der ungarische Reichstag behaiTte
auf der— als verwirkt erklärten und durch die oktroyierte Verfassung von 1849
formell aufgehobenen—Achtundvierziger-Verfassung*). Er behauptete darnach die
staatsrechthche Selbständigkeit Ungarns und verweigerte die Anerkennung und
Beschickungdes Gesamtreichsrates. Die föderahstischenParteien blieben ihm fern,
weil sie sich gegen die ihm zugedachte Kompetenz auflehnten. Um den Weg zu
Verhandlungenmitdem ungarischenunddem la-oatischenLandtage frei zumachen,
wurde das Grundgesetz über die Reichsvertretung durch das Patent vom 20. Sep-
tember 1865 sistiert^).
Nachdem der Fortbestand der ungarischen Verfassung prinzipiell anerkannt
und ein ungarisches Ministerium ernannt worden war, wurden die von einem Aus-
schuß des ungarischen Reichstages ausgearbeiteten neuen ungarischenVerfassungs-
gesetze, darunter auch der Gesetzartikel XII über die gemeinsamen Angelegen-
heiten^) und die Ai't ihrer Behandlung') vom Kaiser sanktioniert, ohne daß sie
^)NähereshierüberimXVIL Kapitel,S.85.— ^)DaderverstärkteReichsrat infolge desFebruar-
patentes durch einParlament abgelöstwurde, wurde neuerdings ein Staatsrat als beratendes
Organ eingesetzt; 1868 wurde er als mit den konstitutionellen Prinzipien unvereinbar wieder
aufgehoben.— ^) Vergl. L o u i s E i s e nm an n,Lecompromis austro-hongroisde 1867, Paris 1904,
und Ivan Zeiger, DerstaatsrechtlicheAusgleich zwischen Österreichund Ungarn, Leipzig1911.
— *) Der ,,Verwirkungstheorie", womit man die Aufliebung der Gesetzartiliel von 1848 zu recht-
fertigen versuchte, wurde ungarischerseitsdie „Theorie der Rechtskontinuität" entgegengesetzt,
die den Fortbestand jener Artikel und damit auch der ungarischen Verfassung behauptete.
— *) Nach der Entlassung des Ministeriums Schmerling war Graf Richard Belcredi
an die Spitze eines neuen, den föderalistischen Plänen geneigteren Ministeriums getreten. —
•) Vergl. das XI. Kapitel, S. 62.— ') Der führende Mann, dessen Einfluß dieVerständigung Ungarns
mit der Krone und die dualistische Gestaltung derMonarchie hauptsächlich herbeigeführt hat, ist
der ungarische Patriot Franz D e a k, „der "Weise der Nation". Vergl. G. S t e i n b a c h,
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Buch Österreichische Bürgerkunde"
Österreichische Bürgerkunde
- Titel
- Österreichische Bürgerkunde
- Autor
- Heinrich Rauchberg
- Verlag
- Verlag von F. Tempsky
- Ort
- Wien
- Datum
- 1911
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 16.4 x 24.0 cm
- Seiten
- 278
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918