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XI. Die Gesamtmonarchie. 65
5. Staatsrechtliche Kennzeichnung.
Nunmehr sindw in derLage dieFrage zu beantworten, welcheCharakterzüge
der von der Theorie unterschiedenen Formen der Staaten und Staatenver-
bindungen in der österreichisch-ungarischen Monarchie zusammentreffen. Diese
Charakterzüge entstammen verschiedenen geschichtlichen Entwicklungsstufen und
jede derselben erstreckt ihre Nachwirkungen auf die politischen Bestrebungen und
die theoretischen Auffassungen der Gegenwart.
Ursprünglich, nachdem Ferdinand I. die ungarische Krone erworben hatte,
beruhte dieVerbindungUngarnsmitdem übrigen Länderbesitz der deutschenHabs-
burger auf einer bloßenPersonalunion. Auf die physischePerson des Mon-
archen beschränkt, war sie nicht dauernd in die Rechtsordnung der beherrschten
Staaten eingefügt. Erst die Pragmatische Sanktion hat dieseVerbindung durch die
rechthcheGemeinschaftderDynastieundderThronfolgeordnungzu einemElemente
der Verfassung beider Staaten gemacht und sie damit zurR e a 1un i o n erhoben.
Ein wichtiger Schritt vorwärts auf demWege zum Einheitsgtaate, den die
HabsburgerdurchdieAusbildungderabsolutenFürstenmachtundUngarngegenüber
insbesonderedurchdieHandhabungderköniglichenReservatrechteunddurchdener-
weiterten Wirkungskreis der Zentralbehörden anstrebten.
Diese Pläne sind durch die ungarische Verfassung von 1848 durchkreuzt
worden. Wären die ungarischen Gesetzartikel von 1848 in Wirksamkeit getreten,
so hätten sie die rechtliche Gemeinschaft zwischen Österreich und Ungarn bis auf
die Dynastie gelöst, die politische Bedeutung des gemeinsamen Monarchen durch
den Palatin geschmälert und die Ergebnisse hundertjähriger Politik und geschicht-
licher Entwickelung vernichtet. Nach der militärischen Niederlage der ungarischen
Revolution ist Ungarn auf Grund der Verwu-kui^stheorie in den österreichischen
Einheitsstaat einbezogen worden; bis 1867 teilt es seine Verfassungs-
geschichte. Der Ausgleich von 1867 erkennt zugleich mit derRechtskonti-
nuität der ungarischenVerfassung dieEigenstaatlichkeitUngarns an. Fortabsetzt
sich dieMonarchie aus zwei selbständigen Staatswesen zusammen. Sie werden kraft
verfassungsmäßiger Notwendigkeit von dem gleichen Monarchen und der gleichen
Dynastie beherrscht und haben die gemeinsame Verwaltung der auswärtigen
Angelegenheitenund des Kriegswesens in ihrerVerfassung sichergestellt, die Gleich-
artigkeit der damit eng zusammenhängenden wirtschaftlichen Angelegenheiten und
des Wehrsystems programmatisch vorgezeichnet. Im übrigen sind sie voneinander
unabhängig. Verfassung, Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung, Gebiets-
hoheit und Staatsbürgerschaft, Wappen, Embleme und Münzen, das alles hat jeder
der beiden Staaten für sich.
Die Gesamtheit der unter dem Zepter des Kaisers stehenden Länder wird
amtlich als „österreichisch-ungarische Monarchie" oder„österreichisch-ungarisches
Reich" bezeichnet. Die Bezeichnung der landesfürstüchen Behörden und Anstalten
ist beiderseits nachdem Titel des Monarchen^) verschieden: inÖsterreich als „kaiser-
üch, könighch", inUngarn als „königlich ungarisch". DieWehrmacht derMonarchie
und die gemeinsamen Behörden und Anstalten werden als solche durch die Be-
zeichnung „kaiserlichund königlich" gekennzeichnet. Im völkerrechtlichen Ver-
kehre tritt dieösterreichisch-ungarischeMonarchie regehnäßig als eine Einheit auf.
1) Vergl. unten S. 77.
Rauchberg, Bürgerkunde.
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Österreichische Bürgerkunde
- Titel
- Österreichische Bürgerkunde
- Autor
- Heinrich Rauchberg
- Verlag
- Verlag von F. Tempsky
- Ort
- Wien
- Datum
- 1911
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 16.4 x 24.0 cm
- Seiten
- 278
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918