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XVII. Der KonstiMionalismus. 83
schließlich auch jene leiden, die sie herbeigeführt haben. Für dieMehrheit aber liegt
darin die Mahnung, ihre Macht nicht zurVergewaltigung der Minderheit inDingen
zu mißbrauchen, die ihr ans Leben gehen, so daß äußerster Widerstand minder
Bedenklichen als Notwehr gerechtfertigt scheinen könnte.
Das Kepräsentativprinzip hat nicht nur in derVerfassung der Staaten, sondern
auch der Selbstverwaltungskörper Anwendung gefunden. Für diese letzteren ist
er sogar noch wesentlicher, weil ihr Willekaum in anderer Weise gebildet und wirk-
samgemachtwerdenkann als durch einhauptsächlich aus W^ahlenhervorgegangenes
Kollegium. Hier wie dort ist die Wahl das Mittel,um diejenigen Personen ausfindig
zu machen und zu bestellen, von denen angenommen wird, daß sie die ihnen an-
vertrauten Angelegenheiten zumWohle der Gesamtheit führen werden. Ob dieses
Ziel erreicht wird, hängt nicht nur von der Organisation und Berufungsordnung
der Vertretungskörper sondern auch von der Einsicht der Wähler und der Tüchtig-
keit der Gewählten ab.
Die Stellung eines Parlamentsmitgliedes— und in gewissem Sinne gilt dies
auch von den anderen Vertretungskörpern— ist mit hoher moralischer Verant-
wortlichkeit verbunden. Nur solche Männer taugen dazu, die klug und unterrichtet
genug sind, um die vom Parlamente zu erledigenden Angelegenheiten zu verstehen,
und charaktervoll genug, um ihre Haltung pflichtgemäß nach sachlichen Gesichts-
punkten zu bestimmen. Beredsamkeit ist zwar nützlich für den Wahlkampf und
erleichtert es, im Parlamente eine Rolle zu spielen, bildet aber keine Gewähr für
die erforderten Geistes- und Charaktereigenschaften. Daß eine genügende Anzahl
geeigneter Männer dem parlamentarischen Leben sich widme und das Vertrauen
der Wählerschaft finde, bildet die Voraussetzung einer gedeihlichen Entwickelung
des Parlamentarismus.
Die Repräsentativverfassung und das poütisch eng damit zusammenhängende
Ehrenamt in der Verwaltung und Rechtsprechung^) sind pohtisch ungemein frucht-
bar. Sie tragen viel dazu bei, daß die— an sich ja unentbehrhche— Macht des
Staates und der öffentlichenVerbände nicht als fremde Gewalt zu fremdenZwecken,
sondern als der ordnende, schützende und vorsorghche Gesamtwille der Gemein-
schaftempfunden wird, andem diese selbstdurch ihre verfassungsmäßigenVertreter
Anteil hat. Durch aktives und passives Wahlrecht zu den Vertretungskörpern
gewinnt jeder einzelne Staatsbürger mittelbaren oder umnittelbaren Einfluß auf
deren Willensrichtung ; in der Form des Ehrenamtes kann jedermann an gewissen
Geschäften der öffentlichenVerwaltung, an gevNissenAufgaben der Rechtsprechung
sich beteiligen, ohne ihnen doch berufsmäßig anzugehören. Zur passiven Seite der
Staatsbürgerschaftkommt so eine aktive: Anteil an der Willensbildung und Hand-
habung der öffentlichen, daraus der Staatsgewalt. Dadurch \vird jeder Einzelne mit
dem Staate inniger verbunden, der Untertan zum Staatsbürger gemacht und mit
staatsbürgerlicher Gesinnung erfüllt.
3. Einkammer- und Zweikammersystem.
In der Organisation der Parlamente und der obersten Kollegien der Selbst-
verwaltungskörper besteht unter anderen darin ein tiefgehender Unterschied, als
die ersteren nach dem Vorbilde des englischen Parlamentes zumeist aus zwei
1) Vergl. unten S. 114 und 156.
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Buch Österreichische Bürgerkunde"
Österreichische Bürgerkunde
- Titel
- Österreichische Bürgerkunde
- Autor
- Heinrich Rauchberg
- Verlag
- Verlag von F. Tempsky
- Ort
- Wien
- Datum
- 1911
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 16.4 x 24.0 cm
- Seiten
- 278
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918