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86 XVII. Der Konstitutionalismus.
Masse der Besitzlosen und Schlechtgelohnten vom Wahlrechte ausgeschlossen
werden. Dann ist das Wahhrecht gleich, aber nicht allgemein.
Alle diese Verschiedenheiten des Wahlrechtes werden mit dem Unterschiede
in den politischen Bedürfnissen und in der politischen Reife der einzelnen Per-
sonen und sozialen Klassen begründet. Man hört wohl auch dieForderung, daß der
größeren SteuerleistungeinbesseresWahh-echt, d. h.mehrEinfluß auf dieZusammen-
setzung des Parlamentes und der Selbstverwaltungskollegien entsprechen solle.
Aber die Steuerleistung darf nicht als Kaufpreis für öffentlichen Einfluß aufgefaßt
werden; in ihr liegt die Erfüllung einer allgemeinen Pflicht, zu derjedermannnach
seiner Leistungsfähigkeit herangezogenwerden soll. Überdies liefern die indirekten
Steuern, die in den Warenpreisen auf die Konsumenten, mithin auf die breiten
Volksschichten überwälzt werden, ein größeres Erträgnis als die direkten Steuern.
Auf den hier besprochenen drei Wahlsystemen beruhen die Wahlen in die Ver-
tretungskörper in Österreich. Für den Reichsrat das allgemeine gleiche und direkte
Wahlrecht, für dieLandtage dasSystem derInteressenvertretung, für dieGemeinde-
vertretungen das auf den Abstufungen der Steuerleistung beruhende Klassen-
wahlrecht nach Wahlkörpern. Die Angliederung einerallgemeinenWählerklasse an
die Wählerklassen (Kurien) der Interessenvertretung, die einige Landtage im An-
schlüssean die frühere Gestaltung desReichsratswahlrechtes vorgenommenhaben,
stellt eine Verbindung der Interessenvertretung mit dem allgemeinen Wahl-
recht dar und gibt den Wählern der oberen Klassen ein mehrfaches oder Plural-
wahlrecht.
Das P 1 u r a 1w ah 1 r e c h t ist ein Mittel,um bei der Ausdehnung des Wahl-
rechtes auf breitere Schichten einem Teile der Wähler größeren Einfluß auf das
Wahlergebnis zu verschaffen. Es besteht darin, daß jedemWähler beimZutreffen
gewisser Voraussetzungen weitere Stimmen zuerkannt werden. Solche Voraus-
setzungensind :höheres Alter, einegewisse Steuerleistung, höhererBildungsgradusw.
Die Wähler, bei welchen diese Voraussetzungen zutreffen, zählen also zwei- oder
mehrfach und können trotz ihrer geringeren Zahl das Übergewicht erlangen^).
Aber auch dort, wo die Forderung des gleichenWahlrechtes ver\virklicht ist,
umfassen die einzelnen Wahllaeise nicht die gleiche Anzahl von Wählern. Da in
dieser Hinsicht sehr erhebliche Unterschiede bestehen, ist auch das Gewicht der
Stimmen sehr verschieden. Das erklärt sich daraus, daß die Wahlkreise
nicht etwa mechanisch nach der Zahl der Bevölkerung oder der Wähler, sondern
unter Berücksichtigung der Gemeinden und Verwaltungsbezu-ke abgegrenzt sind,
die ja auch in allen anderen Hinsichten den Rahmen für das gesellschaftliche, wirt-
schaftliche und politische Leben bilden^). Damit ist auch Gelegenheit gegeben,
dem Unterschiede zwischen Stadt und Land, zwischen den einzelnen Volksstämmen
und sonstigen Interessen in der Weise Rechnung zu tragen, daß die gegensätzlichen
Elemente entweder eigene Wahlki-eise erhalten oder doch eigene Wahlkörper bilden
und so vor Überstimmung geschützt werden^). Auch kann so den gesellschaftlich
*) Vergl. Georg Jellinck, Das Pluralwahlrecht und seine Wirkungen. Dresden 1905.
— *) Vergl. die Tabelle 13 des Anhanges und Anm. 4 auf S. 99.— *) Ein Beispiel dafür bietet die
mährische Landtagswahlordnung von 1905. Sie sondert aufGrund eines ,,nationalen Katasters"
die Wähler in den Wählerklassen der Städte und der Landgemeinden, dann in der allgemeinen
Wählerklasse in Wahlkörper deutscher und böhmischer Nationalität.
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Buch Österreichische Bürgerkunde"
Österreichische Bürgerkunde
- Titel
- Österreichische Bürgerkunde
- Autor
- Heinrich Rauchberg
- Verlag
- Verlag von F. Tempsky
- Ort
- Wien
- Datum
- 1911
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 16.4 x 24.0 cm
- Seiten
- 278
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918