Seite - 87 - in Österreichische Bürgerkunde
Bild der Seite - 87 -
Text der Seite - 87 -
XVII. Der Konstitutionalismus. 87
und wirtschaftlich weiter vorgeschrittenen Gebietsteilen, die mehr Ansprüche an
den Staat stellen und mehr für ihn leisten, ein wirksameres Wahlrecht und eine
ausgiebigere Vertretung gegeben werden als den noch unentwickelten. Denn die
poUtischen Bedürfnisse sind nicht überall gleich: ihre Erweckung, die „Politi-
sierung"derBevölkerungdringtmitderallgemeinenKulturentfaltungnurallmählich
von Wirtschaftsstufe zu Wirtschaftsstufe, von Schicht zu Schicht vorwärts. Man
sieht, wie wichtig die Einteilung der Wahlkreise (im politischen Sprachgebrauche
oft scherzhaft ,,Wahlgeometrie" genannt) für das Ergebnis der Wahlen, mithin
auch für die Zusammensetzung, den Geist und die Leistungen der Vertretungs-
körper ist.
Aber auch die beste Wahlkreiseinteilung gewährt keine Sicherheit dafür, daß
die Wahlergebnisse der tatsächlichen Stärke der Parteien im Lande entsprechen.
Ansehnliche Minderheiten können unvertreten bleiben oder müssen sich vielleicht
mit viel weniger Mandaten begnügen, als es dem Verhältnisse der abgegebenen
Stimmen entspricht. Sie können aber auch besser abschneiden, vielleicht sogar
besserwie die Mehrheit. Eskommtganz auf die Verteilung der Parteien nach Wahl-
kreisen an. Man ist daher bestrebt,Wahlsysteme ausfindig zu machen, die jeder
Partei beiläufig soviel Mandate sichern, wie dies ihrer Stärke entspricht, so daß die
Mandate beiläufig in dem gleichen Zahlenverhältnisse auf die einzelnenParteien
sich verteilen wie die abgegebenen Stimmen. Das soll durch sogenannte Ver-
hältnis- oder Proportionalwahlen geschehen, die also auch den
Minderheiten eine angemessene Vertretung sichern^).
Die Durchführung dieses Prinzips begegnet großen praktischen Schwierig-
keiten. Auch wird die theoretische Einwendung erhoben, daß die aus Verhältnis-
wahlen hervorgehendenAbgeordneten nichtmehrVertreter der Gesamtheit sondern
ledigHch ihrer Partei wären. So fühlenund gebärden sich die Gewählten aber wohl
unter allen Wahlsystemen. In Österreich finden Verhältniswalilen in einzelnen
Wählerklassen des mährischen und des oberösterreichischen Landtages statt. Ein-
facher ist es, der Minderheit überhaupt eine Vertretung zu sichern, wenn sie auch
nicht ihrer zahlenmäßigen Stärke entspricht. Ein— allerdings nichtganzgelungener
— Versuch in dieser Kichtung ist durch die Sonderbestmimungen für die Reichs-
ratswahlen in Galizien unternommen worden.
Der Schutz der Minderheiten bei den Wahlen bedeutet aber noch nicht ihren
Schutz bei der Tätigkeit der Vertretungskörper. Auch hier ist ja in der Regel das
Prinzip der Mehrheit maßgebend. EingewisserSchutz derMinderheiten
besteht dann, wenn für wichtige Beschlüsse eine so hoch qualifizierte Melirheit
oder die Anwesenheit von so vielKammermitgliedernerfordert wird,daß dieMinder-
heit den Beschluß oder die Beschlußfähigkeit verhindern kann. Einer völligen
Aufhebung des Mehrheitsprinzips kommt es gleich, wenn die Parteien nach Kurien
getrennt abstimmen und jeder Kurie ein Vetorecht gegen Beschlüsse der andern
zusteht. Das setzt voraus, daß die Parteibildung auf unveränderlichen Verhält-
nissen, me z. B. der nationalen Zugehörigkeit, beruht und daß auch die Melirheit
einsehe, daß es unbillig oder politisch unmöglich sei, die Minderheit in ihrenLebens-
fragen durch Überstimmen zu vergewaltigen. Auch für diese Ai't des Minoritäten-
schutzes wu-d die Zukunft die richtigen Formen noch zu finden haben.
^) Vergl. H. Rosin, Minoritätsvertretung und Proportionalwahlen. 1892.
zurück zum
Buch Österreichische Bürgerkunde"
Österreichische Bürgerkunde
- Titel
- Österreichische Bürgerkunde
- Autor
- Heinrich Rauchberg
- Verlag
- Verlag von F. Tempsky
- Ort
- Wien
- Datum
- 1911
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 16.4 x 24.0 cm
- Seiten
- 278
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918