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96 XVIII. Der österreichische Reichsrat.
Beschlüsse werden durch persönliche Abstimmung gefaßt, in der Regel mit
absoluter Stimmenmehrheit; es gilt also dasMajoritätsprinzip^). Die Beschlußfähig-
keit setzt aber voraus, daß eine gewisse Mindestzahl von Abgeordneten (das so-
genannte „Quorum") im Herrenhause 40, im Abgeordnetenhause 100 anwesend sei.
Verfassungsänderungen können nur mitZweidiittelmehrheit, imAbgeordnetenhause
überdies bei Anwesenheit mindestens der Hälfte der IVIitglieder beschlossen werden
darauf beruht die größere formelle Ki'aft der Grundgesetze, Weitere Erschwerungen
schützen gewisse in nationaler Hinsicht wichtige Bestimmungen der Reichsrats-
wahlordnung und die Wahlkreiseinteilung,
Die Verhandlungsgegenstände werden, den Fall dringlicher Behandlung aus-
genommen, durch Ausschüsse vorberaten, Gesetzentwürfe in drei ,,Lesungen" er-
ledigt. Die erste zur Bekanntgabe, Begründung und allgemeinen Stellungnahme, die
zweite zur Beschlußfassung über die einzelnen Teile, die dritte zur Beschlußfassung
über das Ganze.
Die Sitzungen des Reichsrates sind, wenn das betreffende Haus nicht anders
beschließt, öffentlich. Aus dem Öffentlichkeitsprinzip folgt die Bestimmung des
Preßgesetzes^), daß für walirheitsgetreue Mitteilungen öffentlicher Verhandlungen
des Rcichsrates und der Landtage niemand zur Verantwortung gezogen werden
kann. Denn erst durch die Zeitungsberichte über den Gang der Verhandlungen
kann die Wählerschaft das Verhalten der Abgeordneten beurteilen. Die Presse
ist ein wichtiger Behelf für die Verbindung zwischen Wählern und Gewählten,
zwischen Parlament und öffentlicher Meinung. Diese Verbindung vor Störung zu
bewahren ist die sogenannte ,,Immunität" der Parlamentsberichte bestimmt. Ein
Mißbrauch ist es, wenn sie dazu benützt wii-d, um vom Gesetze mit Strafe
bedrohte Äußerungen straflos weiterzuverbreiten.
4. Rechtsstellung der Mitglieder.
Wie bereitsim vorigen Abschnitte bemerkt, sind die Mitglieder des Parlamentes
Staatsorgane. Sie sind verpflichtet, die ihnen durch die Verfassung zugewiesenen
Aufgaben in den Formen der Geschäftsordnung zu erfüllen. Daher die feierliche
Anrufung des Gewissens durch den von neu eintretenden Mitgliedern abzulegenden
Eid. Die in das Abgeordnetenhaus gewählten Beamten und Funktionäre bedürfen
zur Ausübung ihres Mandates keines Urlaubes. Alle Mitglieder des Reichsrates sind
zur Teilnahme an den Sitzungen und Arbeiten ihres Hauses verpflichtet. Sie haben
ihr Stimmrecht persönlich auszuüben: die Abgeordneten dürfen von ihren Wählern
keine Instruktionen annehmen (,,freie" Mandate, im Gegensatze zu den ,,im-
perativen" Mandaten der Ständezeit). Das Wort Mandat kennzeichnet ihre Stellung
im Hause nicht; sie fußt nicht etwa auf einem Auftrage der Wähler, sondern
unmittelbaraufderVerfassung. DieRedewendungberuhtaufunklaren Vorstellungen,
in denen sich Nachklänge der Wahlbewerbung mit ständischen Überlieferungen
vermischen. In Wirklichkeit handelt es sich um die unabhängige, nur vom eigenen
Urteil geleitete und vor dem eigenen Gewissen zu verantwortende Erfüllung staat-
licher Pflichten.
Durch dieparlamentarische Immunität^) wird siegesichert : dieMitglieder
des Reichsrates können wegen der in Ausübung ihres Berufes geschehenen Ab-
») Vergl. oben S. 84. — ") Vergl. S. 134 f. — =>) Vergl. G. S e i d 1 e r, Die Immunität
der Mitglieder der Vertretungskörper nach österreichischem Recht. Leipzig 1891,
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Buch Österreichische Bürgerkunde"
Österreichische Bürgerkunde
- Titel
- Österreichische Bürgerkunde
- Autor
- Heinrich Rauchberg
- Verlag
- Verlag von F. Tempsky
- Ort
- Wien
- Datum
- 1911
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 16.4 x 24.0 cm
- Seiten
- 278
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918