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XXI. Das Staatsvolk. 117
grenzt, daß Amt und Gericht möglichst leicht zugänglich, die Beamten aber voU
beschäftigt seien und unnötiger Aufwand vermieden werde.
XXII. Das StaatsYolk.
Der Staat ist die oberste herrschaftliche Organisation des im Staatsgebiete
seßhaften Volkes. Das Staatsgebiet vermittelt nur die Herrschaft; ausgeübt wird
sie über die Menschen, die um ihrer Gemeinschaftszwecke wülen durch die gleiche
Staatsgewalt zur Staatsgemeinschaft zusammengefaßt werden: über das Staats-
volk.
Das Staatsvolk oder die S t a a t s n a t i o n ist nicht gleichbedeutend
mit der Kulturnation als einer voraus geistigen Gemeinschaft. Nicht alle
Kulturnationen haben ihren eigenen Staat und nicht alle Staaten haben eine
national ungemischte Bevölkerung. Die meisten Kulturstaaten der Gegenwart
sind durch den Zusammenschluß und die Verschmelzung verschiedener ethno-
graphischer Elemente entstanden. Auch unter den Staaten der Gegenwart gibt
es solche, die mehrere Volksstämme politisch vereinen. Zu diesen Staaten gehört
sowohl Österreich als auch Ungarn. Trotz der Verschiedenheit der Abstammung,
der Sprache und der Überlieferungen aus der Zeit vor ihrer staatlichen Einigung
bilden die nunmehr durch die gleiche Staatsgewalt zusammengefaßten Volks-
stämme ein einziges Staatsvolk im politischen Sinne. Denn alle die Solidarbedürf-
nisse, die nur durch den Staat befriedigt werden können, sind ihnen gemein: von
der durch die geographische Lage gegebenen „historischen Mission" des Staats-
ganzen herab bis zu den tausendfachen persönlichen Berührungspunkten zwischen
dem Staate und seinen Bürgern. Auch in der Seele desjenigen, der die historische
und politische Notwendigkeit der staatlichen Einheit nicht zu fassen vermag,
ist das Gefühl dafür lebendig in der Anhänglichkeit an den Monarchen und die
Dynastie, die gleichsam die Verkörperung des von allen Sonderinteressen los-
gelösten Einheitsgedankens sind.
Die national gemischten Staaten umschließen mehrere Volkskulturen und
das Kulturleben der Stämme, die verschiedenen Staaten angehören, flutet über
deren Grenzen hinweg. Für jene Staaten ergibt sich die Aufgabe, ihre eigenen
Anforderungen in Einklang zu bringen mit dem berechtigten Streben ihrer Ein-
wohner nach nationaler Kulturentfaltung. Diese aber dürfen über ihren nationalen
Bestrebungen die Pflichten nicht außer acht lassen, die ihnen die staatliche Gemein-
schaft auferlegt.
Im Lehensstaate und im ständischenStaatewardieMehrzahlderVolksgenossen
mitdem Staate nur mittelbar, durch eine Reihe von Zwischenbildungen und Herr-
schaftsträgern verbunden. Anders im modernen Staate. Hier stehen die Staats-
angehörigen dem Staate unmittelbar gegenüber: als Staatsbürger
haben sie verfassungsmäßigen Anteil an der Bildung des öffentlichen Willens
und an der Selbstverwaltung, Anspruch auf gewisse staatliche Leistungen und
auch einen grundgesetzlich gewährleisteten Freiheitsbereich; als Untertanen
sind sie der Staatsgewalt unterworfen. Das Wort „Staatsbürger" bezeichnet die
aktive, das Wort „Untertan" die passive Seite des Verhältnisses zum Staate.
Im Gegensatze zur Lehenszeit und zur ständischen Zeit leben wir in der s t a a t s-
bür2:erlichen Zeit.
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Buch Österreichische Bürgerkunde"
Österreichische Bürgerkunde
- Titel
- Österreichische Bürgerkunde
- Autor
- Heinrich Rauchberg
- Verlag
- Verlag von F. Tempsky
- Ort
- Wien
- Datum
- 1911
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 16.4 x 24.0 cm
- Seiten
- 278
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918