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XLIV. Das Gewerbe. 195
und den Gewerbestand durch eine korporative Organisation zu heben, hat dazu
geführt, daß gewisse Gedanken des Zunftsystems wieder aufgenommen und fort-
gebildet wurden. Im Jahre 1883 ist der Befähigungsnachweis für die handwerks-
mäßigen Gewerbe wieder eingeführtund das Gewerbe (mitAusnahme der Fabriken)
straffer in Zwangsgenossenschaften organisiert worden. Im Jahre 1885 wurde
das gewerbliche Arbeitsverhältnis unter dem Gesichtspunkte des ArbeiterSchutzes
neu geregelt. Eine Reihe von weiteren gesetzHchen Maßnahmen im Interesse des
gewerblichen Mittelstandes ist durch das Gesetz vom 5. Februar 1907 einheitlich
zusammengefaßt und ausgestaltet worden; die österreichische Gewerbeordnung
hat dadurch ihre gegenwärtige Fassung erhalten. Demnach vereinigt die österreichi-
sche Gewerbeverfassung nun Gharakterzüge der Gewerbefreiheit und des Zunft-
systems. Diese geltenfür diehandwerksmäßigen Gewerbe, jene fürHandelsgewerbe^)
und die Fabriksindustrie. Die gesetzliche Regelung der Hausindustrie ist in Aus-
sicht genommen, aber noch nicht erfolgt.
Aus den zahlreichen Bestimmungen der Gewerbeordnung^) können hier nur
vier Gruppen herausgehoben und kurz besprochen werden: Die Einteilung der
Gewerbe nach den Bedingungen des Gewerbeantrittes, der Umfang der Gewerbe-
rechte, das gewerbliche Arbeitsverhältnis und die Organisation der gewerblichen
Interessen.
Was zunächst die Einteilung der Gewerbe anbelangt, so zer-
fallen die von der Gewerbeordnung geregelten Gewerbe in drei Gruppen: in
freie, handwerksmäßige und konzessionierte Gewerbe. Handwerksmäßige Gewerbe
sind solche, bei denen es sich um Fertigkeiten handelt, welche die Ausbildung
im Gewerbe durch die Erlernung und eine längere Verwendung in demselben er-
fordern. Hier ist zum Antritte der Nachweis einer Befähigung erforderlich, die
regehnäßig durch die ordnungsmäßige Beendigung des Lehrverhältnisses und eine
mehrjährige Verwendung als Gehilfe erworben wird. Der Nachweis hierüber kann
hinsichtlich der Lehrzeit gänzlich, hinsichtlich der Gehüfenzeit bis auf ein Jahr
durch die Absolvierung gewisser gewerblicher Unterrichtsanstalten ersetzt werden.
Die handwerksmäßigen Gewerbe werden im Gesetze erschöpfend aufgezählt;
Handelsgewerbe und fabriksmäßig betriebene Unternehmungen gehören nicht
dazu. Konzessionierte Gewerbe sind solche, deren Ausübung aus öffentUchen
Rücksichten an eine behördliche Bewilligung gebunden ist^). Alle andern Gewerbe,
die nicht ausdrücklich als handwerksmäßige oder konzessionierte erklärt werden,
können gegen bloße Anmeldung bei der Behörde betrieben werden, wenn nur die
allgemeinen Bedingungen des selbständigen Gewerbebetriebes zutreffen. Nur zum
Antritte des Gemischtwaren-, Kolonial-, Spezerei- und Materialwarenhandels
ist überdies die fachliche Befähigung ähnlich wie für die handwerksmäßigen
Gewerbe nachzuweisen.
1) Durch die Einführung des Befähigungsnachweises für gewisse Arten von Handelsgewerben
und die Beschränkung der Konkurrenz zugunsten ansässiger Kaufleute (vergl. unten S. 196)
sind jedoch zünftlerische Gedanken auch auf die Ordnung der Handelsgewerbe ausgedehnt worden.
— ') Vergl. V. M a t a j a: ,,Grundriß des Gewerberechts und der Arbeiterversicherung", 1899.
— ') Der Befähigungsnachweis und das Berechtigungswesen im Baugewerbe ist durch ein
besonderes Gesetz (1893) geregelt worden. Nur soweit dieses keine Bestimmungen trifft, findet
die Gewerbeordnung auf das Baugewerbe Anwendung.
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Buch Österreichische Bürgerkunde"
Österreichische Bürgerkunde
- Titel
- Österreichische Bürgerkunde
- Autor
- Heinrich Rauchberg
- Verlag
- Verlag von F. Tempsky
- Ort
- Wien
- Datum
- 1911
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 16.4 x 24.0 cm
- Seiten
- 278
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918