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nehmen, nach Moskau in der Absicht sich dort niederzulassen. Zu diesem Zeitpunkt ist die
junge Frau hochschwanger, ein Umstand der sie bestärkt in die UdSSR auszuwandern, da sie
sich wünscht, dass ihr Kind in der Sowjetunion zur Welt kommt. Der Vater, dessen Identität
sie nie preisgibt, war für L. J. kein Grund zu bleiben, da sie ihn, nach eigenen Angaben, ab-
lehnte. Sie verlässt ihre bisherige Heimat völlig mittellos.
In Moskau verbringt sie nur wenige Tage, sie wird in die Republik der Wolgadeutschen,
genauer in deren Hauptstadt, nach Pokrowsk, gebracht, wo sie zwei Jahre lang leben
und arbeiten soll und wo auch ihr Sohn Fritz zur Welt kommt. L. J. arbeitet als litera-
rische Mitarbeiterin der zwei deutschsprachigen Zeitungen der Stadt, zunächst bei den
„Nachrichten“, später bei der „Roten Jugend“, der Zeitung des Komsomol. Nach einem
zweimonatigen Wienurlaub kehrt L. J. im Herbst 1930 nach Moskau zurück und ist für den
„Verlag der nationalen Minderheiten“ in dessen deutscher Redaktion tätig. 1931 wird dieser
Verlag aufgelöst. L. J. arbeitet von 1933–1938 als Bibliothekarin und Übersetzerin für die
„Deutsche Zentrale Zeitung“. Sie entgeht, im Gegensatz zu allen anderen MitarbeiterInnen,
der Verhaftung, weil sie nicht als Angestellte geführt wurde, sondern als freie Mitarbeiterin
gilt. Doch ab dieser Zeit lebt sie in ständiger Angst, ebenfalls verhaftet zu werden. Nach
langer Arbeitslosigkeit und den damit verbundenen Entbehrungen findet sie zunächst eine
Anstellung in der Korrekturabteilung einer Druckerei, die sie bis Herbst 1939 innehat. 1940
findet sie die Stelle, die ihre letzte in der Sowjetunion sein soll und die sie vor politischer
Verfolgung als „feindliche Ausländerin“ schützt. Sie arbeitet für den „Moskauer Rundfunk
in deutscher Sprache“ als Übersetzerin. Der Rundfunk war ein Staatsbetrieb und die Mit-
arbeiterInnen leisteten wichtige Dienste für den Staat. Daher konnte L. J. trotz der großen
Ausweisungswelle 1941, welche viele Ausländer erfasste, die in der Folge die Sowjetunion
verlassen mussten, in Moskau bleiben. Nach dem Eintritt der Sowjetunion in den Zweiten
Weltkrieg kommt sie gemeinsam mit einigen ihrer KollegInnen der Rundfunkredaktion fern
der feindlichen Linien in der russischen Provinz, in Swerdlowsk und Samara, als Berichter-
statterin aus dem Hinterland zum Einsatz. Sie bekommt die Hungersnot in den Kriegszei-
ten voll und ganz zu spüren. 1943 kehrt sie nach Moskau zurück und betreibt von dort aus
ihre Rückkehr nach Wien, die ihr nach einigen Schwierigkeiten, am 31. Juli 1946, gelingt.
Nach ihrer Rückkehr arbeitet sie weiter als Lektorin und verfasst mit Hilfe ihres Mannes
Anton Beer ein umfangreiches Manuskript über ihren 18jährigen Aufenthalt in der UdSSR.
Dieses Tagebuch ist ein wichtiges Dokument einer Zeitzeugin, welche die Geschehnisse
in den Dreißiger und Vierziger Jahren in der Sowjetunion auf eindringliche und unsen-
timentale Art schildert. Die Beschreibung ihres eigenen Lebens nimmt darin jedoch eine
untergeordnete Rolle ein. Viel wichtiger erscheint ihr die Schilderung der Schicksale ihrer
Genossinnen und Genossen. L. B.-J. stirbt am 17. Juli 1988 im Alter von 84 Jahren in Wien.
W.: „18 Jahre in der UdSSR. DÖW-Akt 8834“, „Moskau, Dreißiger Jahre: Vom Leben und
Überleben. In: Wiener Tagebuch 9“ (1988), „‚Von den „Kinderfreunden‘ zur ‚Roten Jugend‘.
In: Wiener Tagebuch 5“ (1988)
L.: Barack/de Rudder/Schmeickel-Falkenberg 2003, Barck 2007, Gauß 1988, McLoughlin/
Schafranek/Szevera 1997, Nusko 2007, Nusko 2010
Karin Nusko
biografiA.
Lexikon österreichischer Frauen, Band 1, A – H
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- biografiA.
- Untertitel
- Lexikon österreichischer Frauen
- Band
- 1, A – H
- Herausgeber
- Ilse Korotin
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79590-2
- Abmessungen
- 17.4 x 24.5 cm
- Seiten
- 1422
- Kategorie
- Lexika