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land gehörenden) Dodekanes und Zypern besuchte. Dort gelang es ihr, in den Dörfern die
Menschen kennenzulernen, die noch die berühmten rhapsodischen Gedichte ihrer Heimat
beherrschten. Die bis dahin nur mündlich tradierten Zweizeiler, Balladen und Heldenlieder
zeichnete H. L. im Diktat minutiös auf. Mit einer Fülle von zum Teil gänzlich unbekanntem
Liedgut kehrte die passionierte Liedsammlerin von ihren mit minimalen Mitteln durchge-
führten Feldforschungen zurück.
Mit Ausbruch des Zweiten Weltkrieges rissen ihre Auslandskontakte ab. Trotz limitierter
Publikationsmöglichkeiten und erheblicher Einschränkungen bereitete H. L. unbeirrt und
zielstrebig die Edition des von Fritz Boehm fast fertig ausgearbeiteten Manuskripts „Die
neugriechische Totenklage“, ihrer Reiseerinnerungen und der Übersetzung des von ihr ge-
sammelten Balladenmaterials vor.
Im August 1948 gelang es ihr unter abenteuerlichen Umständen während der Berlin-Blocka-
de die Stadt zu verlassen, um in Brüssel am 7. Internationalen Kongress für Byzantinistik
teilzunehmen. Die im Anschluss daran geplante Rückkehr in ihr „Paradies der Volksdich-
tung“, nach Zypern, konnte H. L. nicht mehr verwirklichen. Die fortlaufenden Schrecken
und Entbehrungen der Kriegs- und Nachkriegsjahre, das ungewisse Schicksal ihres im
Krieg als Soldat verschollenen Sohnes Georg und der tragische Tod ihres Lebensmenschen
Fritz Boehm hatten ihren Tribut gefordert. An Körper und Geist geschwächt, erlitt H. L.
während ihrer Arbeit an der Bibliothek des Universitätsinstituts im Alter von 59 Jahren
einen Zusammenbruch. Noch in Brüssel wurde sie in eine Heilanstalt eingeliefert und nach
einigen Monaten nach Deutschland überstellt, wo sie ihren letzten Lebensabschnitt bis zu
ihrem Tod 1961 in verschiedenen Pflegeanstalten zubrachte.
Es war ihr nicht vergönnt, die Arbeit an dem ihr alles bedeutenden Balladenstoff noch
einmal aufzunehmen. Die letzten von ihr gesammelten und übersetzten Volksdichtungen
erschienen posthum.
Obschon Laienforscherin mit einem ungewöhnlichen Werdegang, kann H. L. als eine Leit-
figur in der neugriechischen Liedforschung gelten. Sie hat durch die spezifische, intuitive
Art ihrer Feldforschung
– durch große Nähe, persönliche Anspruchslosigkeit im Reisen und
ihre expressive Begeisterung über die Gedichtfunde – die Sympathie der Menschen in den
Dörfern erworben. Zugleich hat sie es verstanden, durch ihr Vortragsgeschick der urbanen
griechischsprachigen Elite die Augen für die Schönheit der indigenen Dichtung zu öffnen.
H. L. wurde dadurch zur sozialen Mittlerin, im konkreten Sinne zur „Stimme der einfachen
Menschen“ in den besseren Häusern der von ihr besuchten Landstriche. Ihr bleibender Ver-
dienst ist es, viele der damals nur noch von älteren Menschen beherrschten rhapsodischen
Gedichtvarianten im Griechenland und Zypern der 1930er Jahre aufgezeichnet und für die
Nachwelt erhalten zu haben.
Ausz.: 1924 Ernennung zum externen Mitglied der Petöfi-Gesellschaft, Ungarn; 1933 Ver-
leihung des Silbernen Kreuzes des Erlöserordens, Griechenland.
Qu.: Nachlass in Familienbesitz.
W.: „Hermann von Schellenberg. Ein deutsches Trauerspiel in fünf Aufzügen“ [1911], „Sein
eigener Feind. Schauspiel in fünf Akten“ [1916], „Balladen aus alter Zeit. Aus dem Alten-
glischen und Altschottischen“ (1922), „Bartók, Béla: Das ungarische Volkslied. Versuch
einer Systematisierung der ungarischen Bauernmelodien. Ungarische Bibliothek Reihe
biografiA.
Lexikon österreichischer Frauen, Band 2, I – O
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- biografiA.
- Untertitel
- Lexikon österreichischer Frauen
- Band
- 2, I – O
- Herausgeber
- Ilse Korotin
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79590-2
- Abmessungen
- 17.4 x 24.5 cm
- Seiten
- 1026
- Kategorie
- Lexika