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Die gute und ausführliche Quellensituation ermöglicht Einblicke in Lebenssituation, -be-
dingungen und lebensweltliche Zusammenhänge vazierender Unterschichtfrauen, ihre
Fortkommensstrategien und Subsistenzsicherung. Mehrmals wurde die St. im Laufe ih-
res Vazierendenlebens abgeschoben (u. a. nach Passau, Ungarn und Jägersdorf), ein damals
durchaus übliches obrigkeitliches Verfahren, sich armer Leute zu entledigen, wie die Legi-
onen von Schubzetteln beweisen.
Sie zieht in so genannten Gespannschaften durch die Gegend, wobei sie größere Städte
wegen ihrer rigiden Bettelpolitik eher meidet. Entweder geht sie mit einer zweiten Frau,
mit einem Mann (in erster Linie dem bayrischen Buben) oder als zwei Paare. Während die
Männer stehlen, warten die Frauen auf sie und verkaufen dann, weil sie weniger auffällig
sind, das Diebsgut. Bestimmte Wirtshäuser oder Dorfhandwerker dienen als Anlaufpunkte
und Kontaktstellen zur sesshaften Welt. Dort lassen sich gestohlene Waren gut verkaufen,
dort kann man sich ausruhen, in einem richtigen Bett schlafen statt in einem Heustadl und
das verdiente Geld verprassen. Ansonsten lebte E. St. hauptsächlich vom Bettel, für den sie
sich situativer Strategien bediente, falsche Bescheinigungen vorwies (etwa ausgebrannt oder
vor den Türken geflüchtet bzw. eine Soldatenwitwe zu sein). Überhaupt spielte in diesem
Handwerk die Wahrheit eine nur marginale Rolle, die Geschichten mussten jedoch plausi-
bel sein und einen gewissen Mitleidseffekt erzielen können. Dazu brauchte es vor allem die
Fähigkeit, Menschen und Situationen blitzschnell einzuschätzen und aus dieser Einschät-
zung einen Lebenslauf zu erfinden, der passte. Bekamen BettlerInnen von der Landbevöl-
kerung in erster Linie Naturalien, eine Suppe oder ein Dach über dem Kopf für ein, zwei
Nächte, so gaben sie ihrerseits selbst auch etwas. Nämlich Informationen, Neuigkeiten und
ihre Arbeitskraft. Die Scharen von Mobilen bildeten ein Arbeitskräftereservoir, aus dem die
sesshafte Bevölkerung in arbeitsintensiven Zeiten schöpfen konnte.
Vor Gericht bediente sich E. St. genau dieser erlernten Strategien, die sie als Bettlerin so er-
folgreich gemacht hatten, die nun aber nur bedingt griffen und adaptiert werden mussten. So
übertrieb sie mit einer Geschichte, in der es um den Diebstahl von 800 ! Gulden ging, die ihr
das Gericht nicht glaubte, weil die Ingredienzien zu weit von ihrer Lebenswelt entfernt waren.
Wohl unter dem Druck der Haft und der wahrscheinlich angewandten Folter gestand sie
schließlich auch einen Kindsmord und zwei Abtreibungen, die sie aber später, rekurrierend
auf das weibliche Stereotyp der mollities mentis abschwächt. Zu ihrem Glück findet das
Gericht trotz fieberhafter Suche keine ZeugInnen und muss daher die Anklagepunkte fal-
len lassen. Es hätte sie den Kopf gekostet, denn Kindsmord war das weibliche Delikt des
18. Jahrhunderts par excellence und wurde entsprechend geahndet. Darüber hinaus galt das
besondere gerichtliche Augenmerk dem so genannten Abortus suspecti und der Fornication,
der Unzucht, die ebenfalls streng bestraft wurden. Alle drei Delikte, unmittelbar verknüpft
mit dem weiblichen Körper, seiner (mangelnden) Integrität und der weiblichen Ehre, waren
fast ausschließlich Frauendelikte, während Diebstahl als männliches Paradedelikt der Zeit
galt, und bei Männern viel strenger geahndet wurde als bei Frauen.
Insgesamt stellt sich uns das Leben E. St.s in den Quellen als eines dar, das auf Solidarität
und Loyalität innerhalb der social community der Bettelnden und Vazierenden beruhte, auf
einem eigenen Verhaltenskodex untereinander aber auch gegenüber den Sesshaften, auf die
die Vazierenden ja angewiesen waren. Trotz obrigkeitlicher Versuche, die Mobilität zu verun-
biografiA.
Lexikon österreichischer Frauen, Band 3, P – Z
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- Titel
- biografiA.
- Untertitel
- Lexikon österreichischer Frauen
- Band
- 3, P – Z
- Herausgeber
- Ilse Korotin
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79590-2
- Abmessungen
- 17.4 x 24.5 cm
- Seiten
- 1238
- Kategorie
- Lexika