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sich zur Weiterleitung privater Post bereit. M. St. informierte die Häftlinge auch über die
aktuelle militärische Lage. 1944 erfolgte schließlich die Einbindung M. St.s in den orga-
nisierten Lagerwiderstand. Im Auftrag der „Kampfgruppe Auschwitz“ stellte sie Kontakte
zu Verbindungsleuten der bewaffneten polnischen Befreiungsbewegung her und beförder-
te Nachrichten, illegale Zeitungen, Medikamente, Waffen und Sprengstoff zwischen dem
Lager und der Außenwelt. Von einem Heimaturlaub in Bregenz brachte sie zwei Revolver
mit, die sie einem Angehörigen des polnischen Lagerwiderstands zukommen ließ. Mit ihrer
Hilfe gelangten die von Hermann Langbein, dem Schreiber Wirths‘, erstellten Berichte
über die Häftlingssterblichkeit in Auschwitz nach Wien. Diese wurden in einem Flugblatt
verarbeitet, das in Wien in Umlauf gebracht wurde. Außerdem gab sie Informationen über
die Pläne des medizinischen Personals an die Widerstandskämpfer weiter. Da die Gescheh-
nisse im Lager ihr sehr zusetzten und ihre Gesundheit angegriffen war, trug sich M. St. mit
dem Gedanken, einen Heimaturlaub in Bregenz zur Emigration in die Schweiz zu nutzen.
Auf Bitten der Häftlinge erklärte sie sich jedoch bereit, nach Auschwitz zurückzukehren.
Ihr Engagement für die Lagerinsassen brachte M. St. mehr als einmal in unmittelbare Ge-
fahr. So wurde sie von einem SS-Sanitäter beim Abzweigen von Lebensmitteln beobach-
tet und bei Wirths denunziert. Da dieser die kompetente Mitarbeiterin schätzte, kam sie
mit einer Verwarnung davon. Auch verweigerte M. St. ihre Unterschrift zu einem Passus
eines vom Personal zu unterzeichnenden Rundschreibens, der sich auf die verpflichtende
Mitwirkung an einer Vernichtungsaktion an ungarischen Juden bezog. Im Jänner 1945 ver-
anlasste Wirths die Berufung M. St.s nach Berlin und schließlich ihre Einweisung in eine
Prager Klinik aufgrund angeblichen Morphinismus. Vermutlich versuchte er die missliebig
gewordene Schwester mit dieser Maßnahme dem Zugriff der Politischen Abteilung der
Lagerverwaltung zu entziehen.
Kurz vor Kriegsende kehrte M. St. nach Bregenz zurück. Im Frühjahr 1946 wurde sie von
den französischen Besatzungsbehörden unter dem Vorwurf, in Auschwitz Häftlinge durch
Phenol-Injektionen ermordet zu haben, verhaftet und für mehrere Monate interniert. Erst
auf Intervention ehemaliger polnischer Insassen wurde sie freigelassen. Gesundheitlich an-
geschlagen und durch ihre Erlebnisse in Auschwitz traumatisiert, gab sie ihren Beruf als
Krankenschwester auf und trat 1949 als Näherin in eine Textilfabrik ein. Im Warschauer
Prozess gegen den Lagerkommandanten von Auschwitz Rudolf Höss (1947) sagte sie als
Zeugin aus. Der Bundesverband Österreichischer Widerstandskämpfer und Opfer des Fa-
schismus ernannte sie 1955 zum ersten Ehrenmitglied. 1957 verstarb M. St. nach einem
zahnärztlichen Eingriff an einem Herzinfarkt. In Bregenz erinnern heute eine Gedenktafel
am Sanatorium Mehrerau, ein Weg beim Landeskrankenhaus sowie eine Station des 2002
eröffneten Gedenkweges an M. St., die aufgrund ihrer Fürsorge und Solidarität von den
Häftlingen als „Engel von Auschwitz“ bezeichnet wurde.
Qu.: DÖW 98, 4469.
L.: Eder o. J., Garlinski 1975, Johann-August-Malin-Gesellschaft 1985, Langbein 1995,
Langbein 1995a, Walser 1988, Wolff 1987
Christine Kanzler
biografiA.
Lexikon österreichischer Frauen, Band 3, P – Z
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- biografiA.
- Untertitel
- Lexikon österreichischer Frauen
- Band
- 3, P – Z
- Herausgeber
- Ilse Korotin
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79590-2
- Abmessungen
- 17.4 x 24.5 cm
- Seiten
- 1238
- Kategorie
- Lexika