Seite - 70 - in Aus Österreichs Höhe und Niedergang - Eine Lebensschilderung
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losigkeit auf. Jener Glaube bildete ein starres unabänderlichesDogma
und überdies die Basis, auf der alle politischen Erwägungen aufgebaut
und weiterentwickelt wurden. Auch ich war diesem Glauben mit
Leib und Seele ergeben. Mein ganzes staatsbürgerliches Empfinden
wurzelte darin. —
Anfang 1889 begannen in Ungarn gewaltige Demonstrationen bei
Verhandlung des Wehrgesetzes. Dagegen wandte man das uralte
Mittel der Konzessionen und Konzessiönchen an, und damals ent-
stand das Wörtchen ,,und" zwischen dem traditionellen ,,K. k.".
DasWehrgesetz, mit vielenFehlern behaftetund fürzehnJahre gültig,
wurde schließlich mit größter Mühe durchgebracht. Dessen Novel-
lierung erfolgte aber nicht nach den gesetzmäßig vorgesehenen wei-
teren zehn, sondern nach wohlgezählten 23 Jahren— gerade in der
Zeit, als ich dem Kriegsministerium vorstand.
Im August fand die imposante Leichenfeierlichkeit des plötzlich
verstorbenen Generales Philippowich statt. Ich sah dabei zum ersten
Male Erzherzog Franz Ferdinand in militärischer Funktion: in der
bescheidenen Rolle eines Bataillonskommandanten des Infanterie-
regiments Nr. 102.
Nach Abschluß der im engen Rahmen verlaufenen Herbstmanöver
wurde ich an das Krankenbett meines Vaters gerufen, das auch sein
Sterbebett werden sollte. Ich halte sein Vorbüd und Angedenken
hoch und betrauere ihn noch heute.—
Der I.Mai 1890 brachte den ersten ,,Arbeiter-Mai". Für PÜsenund
Umgebtmg mit seinen nach Zehntausenden zählenden Arbeitern hegte
mangroßeBesorgnisseundtrafumfangreicheVorkehrungen. Angesagte
Revolutionen brechen niemals aus. So auch damals. EtlicheWochen
später kam es aber doch im Kohlenrevier Nürschan und im Ostrauer
Gebiet zu Zusammenstößen zwischen Arbeitermassen und Assistenz-
truppen. Die Lohn- und Arbeitsfrage im latenten Kampf des Prole-
tariats gegen den Kapitalismus war die Ursache. Es gab auf Seite der
Arbeiter Tote und Verwundete. Bei Gesamtbeurteilung der tief ein-
schneidenden und nochlangenichtgelöstensozialenFrage isteseigent-
lich auch gleichgültig, welche Seite im einzelnen Falle die auslösende
\^eranlassung gibt. Zweifelsohnewird dieunaufhaltsamfortschreitende
Sozialisierung ändernd eingreifen, aberdasPendelwirdoft wiedernach
der anderen Seite ausschlagen, Ungerechtigkeiten und Gewaltakte im
Gefolgehaben. Das zeigt sichübrigens just jetzt, bei dergrößtenUm-
stülpimg, die dieGeschichte allerZeitenkennt. DiesliegtebeninderUn-
voUkommenheit aller menschlichen Einrichtungen imd Bestrebungen,
die weder Gesetze noch Religionen auszugleichen vermögen, da ja
schließlich auch diese nurEmanationen desmenschlichenGeistessind.
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Aus Österreichs Höhe und Niedergang
Eine Lebensschilderung
- Titel
- Aus Österreichs Höhe und Niedergang
- Untertitel
- Eine Lebensschilderung
- Autor
- Auffenberg von Komarów
- Verlag
- Drei Masken Verlag München
- Ort
- München
- Datum
- 1921
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 13.4 x 21.6 cm
- Seiten
- 536
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918