Seite - 95 - in Aus Österreichs Höhe und Niedergang - Eine Lebensschilderung
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daß beide Teile Opfer brachten, Opfer hinsichtlich ihrer Selbstbe-
stimmung, doch auch ihrer politischen und wirtschaftlichen Ziele.
Bei den vielen Vortrefflichkeiten Ungarns und seines inneren Ge-
füges ist es doch wenig geeignet, andere Völker zu assimilieren.
Dafür hatte es dengroßen Vorteil, im Konglomeratstaat an derDonau
immer die tonangebende Rolle zu spielen. Auf diese Weise arbeiteten
die Kräfte des ganzen Staates indirekt an Ungarns Innern Bestre-
bungen und Fortschritten. Darüber hinauszugehen war einfach
töricht.
Ludwig Kossuth erträumte das Staatengebilde einer Donaukon-
föderation, die eigentlich doch nichts anderes gewesen wäre als der
bestandene dualistische Staat an der mittleren Donau. Die unteren
Donaustaaten diesem Gebilde anzuschließen, wäre gewiß auch keine
Unmöglichkeit gewesen, doch würde dann Ungarn jenen vorherr-
schenden Einfluß wohl kaum weiter behalten haben, dessen es sich
so sehr erfreute.
Heute sind das allerdings nur mehr rückschauende Betrachtungen,
über die das Weltengeschick souverän hinwegschreitet. Doch auch
dieses ist wandelbar, und das letzteWortnoch langenichtgesprochen.
Was immer auch die Gewaltakte einer Ungeheuern materiellen und
wirtschaftlichen Überlegenheit gezeitigt haben, die geopolitischen
Grundbedingungen können sie auf die Dauer doch nicht umgestalten.
Und mitten in der allgemeinen Dissonanz imd im Nirwana, darin
sich Mitteleuropa befindet, vermag ich die Überzeugtmg doch nicht
aufzugeben, daß letzten Endes die Naturnotwendigkeit eines wirt-
schaftlichen StaatengebÜdes— und in Hinkunft wird es vielleicht
nur mehr solche geben— an der Donau sich wieder imperativ gel-
tend machen wird. Die Grenzen dieses zukünftigen Konglomerat-
gebildes werden sich von jenen der alten Monarchie wohl kaum
wesentlich unterscheiden, wenn auch der Zentralpunkt vielleicht eine
Verschiebung erfahren oder ein solcher überhaupt ausgeschaltet
werden sollte. Mag es in zehn oder in hundert Jahren eintreten,
dies ändert nichts am Prinzip.— •
In Fortsetzimg meiner Schüderungen sei erwähnt, daß das Mini-
sterium Fejervary im April 1906 durch das „große Koalitionsmini-
steriumWekerle" abgelöst wurde. Hierdurchkam man wohl ausdem
Ex-lex-Zustand heraus, doch mußte sich vorher die Krone Bedingun-
gen unterwerfen, die von einem kaudinischen Joch kaum mehr zu
unterscheiden waren. Namentlich die vom Grafen Julius Andrassy
(Minister des Innern) erdachten Verfassungsgarantien enthielten völlig
das Aufgeben fast aller in den letzten Jahren getroffenen Entschei-
dungen, wovon auch jene tangiert \\airden, die sich der bisherigen
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Aus Österreichs Höhe und Niedergang
Eine Lebensschilderung
- Titel
- Aus Österreichs Höhe und Niedergang
- Untertitel
- Eine Lebensschilderung
- Autor
- Auffenberg von Komarów
- Verlag
- Drei Masken Verlag München
- Ort
- München
- Datum
- 1921
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 13.4 x 21.6 cm
- Seiten
- 536
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918