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Michael Tangl (1861–1921) 67
unterschwellig von diesen Motiven mitbestimmten – Formulierungen im Programm des
„Archivs“, die zu einem erbitterten Schlagabtausch zwischen den Vertretern der „Wie-
ner Schule“ und den Herausgebern führte, soll hier nicht näher eingegangen werden.
Im Fall Tangls war die Verstimmung über seine verhinderte Rückkehr nach Wien und
die darauffolgende wachsende Distanz zwischen ihm und dem Wiener IÖG mit hoher
Wahrscheinlichkeit mit ausschlaggebend für die Gründung der neuen Zeitschrift. Doch
auch die empfindliche Kritik an den Intentionen der Herausgeber seitens Vertretern des
Wiener Instituts, allen voran Karl Uhlirzs, scheint heute – wenn man die ihr zugrunde
liegenden persönlichen Differenzen, die zwar als Erklärung, nicht aber als Rechtfertigung
dienen, beiseite lässt – überzogen194. Die zentralen Angelpunkte der Auseinandersetzung,
Brandi, Bresslau und Tangl hätten Sickel und seiner Schule vorgeworfen, beim Discrimen
veri ac falsi stehen geblieben zu sein, und würden nun einen künstlichen Gegensatz zwi-
schen der „alten“ Diplomatik der Sickel’schen Schule und einer mit dem „Archiv für Ur-
kundenforschung“ zu begründenden „neuen“ Diplomatik zu konstruieren beabsichtigen,
sind in der unterstellten polemischen Pointiertheit im Geleitwort zum ersten Band nicht
formuliert worden195. Brandi, der gleich im zweiten Band die Kritik mit dem Bedau-
ern, dass die kurzgefassten Ausführungen im programmatischen Geleitwort offensichtlich
zu Missverständnissen geführt hätten, aufgriff, verwahrte sich daher auch dezidiert in
seiner Entgegnung gegen eine entsprechende Interpretation des Programms der neuen
Zeitschrift196. Er betonte dabei – nun unmissverständlicher – dass es Ziel des „Archivs“
sei, einer – im übrigen bereits von Sickel selbst geforderten – Erweiterung der Diplomatik
eine Plattform zu bieten197.
Kehr“, der mit seinen eben erwähnten Plänen große Proteste ausgelöst hatte, denen er sich entzog, indem er
1902 als Direktor des Preußischen Historischen Instituts nach Rom ging.
194 Vgl. die entsprechende Notiz von Oswald Redlich, in : MIÖG 28 (1907) 711f., Karl Uhlirz, Ein „Archiv
für Urkundenforschung“, in : Deutsche Literaturzeitung 29 (1908) 1349–1353 ; eine eingehendere Ausei-
nandersetzung mit den Vorwürfen der Kritiker bei Schaller, Tangl (wie Anm. 1) 221–223. Lhotsky,
Geschichte des Instituts (wie Anm. 5) 315, weist darauf hin, dass, obwohl die „Wiener Schule unter dem
Einfluß Innsbrucks“ für die Weiterentwicklung der Sickel’schen Diplomatik Großes geleistet habe, der seit
1903 als Direktor des IÖG amtierende Ottenthal „Abweichungen von der geheiligten Sickel-Tradition“, an
der er glaubte, starr festhalten zu müssen, strikt ablehnte. Somit war die mit der Gründung des „Archivs für
Urkundenforschung“ beabsichtigte Erneuerung und Erweiterung der Urkundenforschung nicht als Provoka-
tion, sondern als zum damaligen Zeitpunkt durchaus berechtigte Forderung zu verstehen.
195 Die entsprechende Formulierung, die wohl in erster Linie zum Stein des Anstoßes wurde, lautet im Geleit-
wort folgendermaßen : „Aber indem wir an die Arbeiten Sickels und seiner Generation überall anknüpfen,
wollen wir über die Frage des Discrimen veri ac falsi in vetustis membranis vordringen zu einer möglichst
genauen Erkenntnis der Bedingtheiten und damit der historischen Verwendbarkeit unserer urkundlichen
Quellen“, Einführung, in : AUF 1 (wie Anm. 189) 2.
196 Karl Brandi, Urkundenforschung, in : AUF 2 (1909) 155–166.
197 So resümiert auch Fichtenau, Diplomatiker (wie Anm. 13) 45, der sich zwar im Wesentlichen der Kri-
Österreichische Historiker
Lebensläufe und Karrieren 1900–1945, Band 2
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Österreichische Historiker
- Untertitel
- Lebensläufe und Karrieren 1900–1945
- Band
- 2
- Autor
- Karel Hruza
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2012
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78764-8
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 678
- Schlagwörter
- Lebensläufe, Werke und gesellschaftliches Wirken österreichischer Historikerinnen und Historiker, Geschichtsforschung
- Kategorie
- Biographien