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Michael Tangl (1861–1921) 71
Nationalitätenstreites in der österreichisch-ungarischen Monarchie engagierte sich Tangl
im Deutschen Schulverein209. Er war, wie viele seiner Kollegen, Mitglied des 1880 ge-
gründeten Vereines, der sich zum Ziel gesetzt hatte, deutschsprachige Minderheiten im
cisleithanischen Teil der österreich-ungarischen Monarchie vor allem durch den Bau von
Schulen und die Unterstützung deutscher Bildungseinrichtungen zu schützen210. Die be-
tont unpolitische Grundhaltung des Vereines, der als Mitglieder Personen aller politischen
Lager, wie die Sozialdemokraten Engelbert Pernerstorfer und Viktor Adler, der Christ-
lichsoziale Karl Lueger, aber zunächst auch Georg Ritter von Schönerer angehörten, kam
Tangls eigener Haltung entgegen. Der Verein entwickelte sich bis zum Jahr 1914 mit
einem Mitgliederstand von etwa 200.000 Personen, darunter vor allem Angehörige des
Bildungsbürgertums und viele Juden211, zu einem der größten Vereine in der österreich-
ungarischen Monarchie. Nachdem Tangl nach Berlin gegangen war, schloss er sich dort
les bis dahin angenommenes spezielles Judenschutzrecht in der Karolingerzeit verneint, widerlegt Tangl in der
zweitgenannten Arbeit die These Pietro Fedeles, der behauptet hatte, Gregor VII. sei mit der Familie der Pier-
leonis verwandt und daher jüdischer Abstammung gewesen (vgl. Pietro Fedele, Le famiglie di Anacleto II.
e di Gelasio II., in : Archivio della R. Società Romana di storia patria 1904, XXVII, 399–344). Diese These,
deren politische und historische Tragweite Fedele möglicherweise gar nicht bewusst war, wird von Tangl
nüchtern-sachlich widerlegt („Die ganze Papstgeschichte der Zeit müsste umgeschrieben, die herrschende
Meinung, dass das Eingreifen Heinrichs III. in Rom vom Jahre 1046 einen einschneidenden Personen- und
Systemwechsel mit sich brachte, gänzlich aufgegeben werden […] Jüdisches Convertitentum hätte es dann
nicht bis zu einem Gegenpapst – Anaklet II. – gebracht, sondern der Kirche einen der größten Päpste aller
Jahrhunderte – Gregor VII. – geschenkt“ (vgl. hier 162f.). Mit deutlichen Worten spricht Tangl in diesem
Zusammenhang über die antisemitische Haltung Bernhards von Clairvaux : „Mit voller Schärfe vertrat Bern-
hard von Clairvaux den Rassen-Antisemitismus ; von dem gleichen Gedanken nahm die Schmähschrift Ar-
nulfs gegen Anaklet ihren Ausgang ; und diesen Verhetzungen gegenüber soll […] Anaklet II. auf die schärfste
Waffe verzichtet haben, auf den Hinweis, dass sein Geschlecht der Kirche bereits einen Papst geschenkt habe
[…].“ Vgl. ebd. 178.
209 Zur Geschichte des 1908 in Verein für das Deutschtum im Ausland (VDA) umbenannten Deutschen Schul-
vereins vgl. Gerhard Weidenfeller, VDA. Verein für das Deutschtum im Ausland. Allgemeiner Deutscher
Schulverein (1881–1918). Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Nationalismus und Imperialismus im
Kaiserreich (Europäische Hochschulschriften III, 66, Bern/Frankfurt/M. 1976) 108–126.
210 Wohl schon vorher war Tangl, wie zahlreiche andere Vertreter deutscher und österreichischer wissenschaft-
licher Institutionen, etwa der Präsident der MGH Georg Waitz und der Direktor des IÖG Sickel sowie in
besonders aktiver Rolle Wattenbach, Mitglied des Vereins für siebenbürgische Landeskunde ; vgl. Weiden-
feller, VDA (wie Anm. 209) 89.
211 Mehrere Versuche antisemitischer Gruppen, Juden von der Mitgliedschaft auszuschließen und Schulen israe-
litischer Kultusgemeinden nicht mehr durch den Deutschen Schulverein zu unterstützen, schlugen fehl und
führten 1886 zum demonstrativen Austritt Schönerers aus dem nach seiner Ansicht „verjudeten Verein“, vgl.
Weidenfeller, VDA (wie Anm. 209) 115–123. Aus Furcht vor zu großen Mitgliederverlusten entschloss
sich allerdings der Deutsche Schulverein zu einem Kompromiss und gestattete den Ortsgruppen, autonom
über die Zulassung von Juden zu entscheiden. Viktor Adler und Engelbert Pernerstorfer zogen sich in der
Folge aus dem Vorstand des Vereins zurück.
Österreichische Historiker
Lebensläufe und Karrieren 1900–1945, Band 2
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Österreichische Historiker
- Untertitel
- Lebensläufe und Karrieren 1900–1945
- Band
- 2
- Autor
- Karel Hruza
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2012
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78764-8
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 678
- Schlagwörter
- Lebensläufe, Werke und gesellschaftliches Wirken österreichischer Historikerinnen und Historiker, Geschichtsforschung
- Kategorie
- Biographien