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Michael Tangl (1861–1921) 75
lastung während der Kriegsjahre, später jedoch durch den unerwartet frühen Tod Tangls
– letztendlich nicht realisiert werden.
Das gesamte Werk Tangls ist dem Studium, der Analyse, Interpretation und Auswer-
tung der schriftlichen Quellen gewidmet225. Den Absolventen des so stark von Sickel
geprägten IÖG stand in den späten 1880er-Jahren nicht nur eine damals neue und bahn-
brechende Methode zu Gebote, sie fanden auch ein in vielerlei Hinsicht kaum ausgewer-
tetes, beinahe unerschöpflich scheinendes Reservoir an schriftlichen Quellen vor – es mag
hier genügen, nur an das damals erst seit Kurzem der Forschung zugängliche Vatikanische
Geheimarchiv, aber auch viele andere vor allem kirchliche und private Archive zu erin-
nern –, die es galt, zu sammeln, zu sichten und mit der nun zur Verfügung stehenden
wissenschaftlichen Methode zu bearbeiten. In den Werken Tangls wird die Entdeckerlust
und die Begeisterung für die damit verbundene Pionierarbeit spürbar. Aus umfassender
und eingehender Kenntnis der mittelalterlichen Quellentexte entspringt seine nähere
Beschäftigung mit einzelnen Themenbereichen, wobei die Anwendung der hilfswissen-
schaftlichen Methoden immer den roten Faden der wissenschaftlichen Eröterung bildet.
Gleich welchem Thema Tangl sich zuwandte, immer war die Konsolidierung einer soliden
Quellenbasis der Ausgangspunkt, von dem aus allein erst weiterführende Überlegungen
anzustellen waren. Die schriftlichen Zeugnisse mussten zuerst eingehend geprüft, ihre
Glaubwürdigkeit, wenn es um Fakten ging, nachgewiesen, ihre Tendenz, wenn es um sub-
jektive Darstellung ging, erkannt und ihre möglichst exakte chronologische Einordnung
festgestellt werden.
So widmete sich Tangls interne Quellenkritik Datierungsfragen, dem Schrift- und
Stilvergleich, Verfasserfragen, der handschriftlichen Überlieferung und ihren gegensei-
tigen Abhängigkeiten, der Entstehung der Quellen, der Untersuchung von Textstufen,
Fassungen und Redaktionen sowie bei Urkunden besonders auch der Frage nach For-
mularbehelfen, Konzepten und Textentwürfen226, der Registerführung, aber auch der
späteren Verwendung der Texte, ihrem Nachwirken und „Nachleben“. Großen Wert
legte Tangl dabei auf die Nachvollziehbarkeit seiner Argumentation und bediente sich
daher häufig des damals noch neuen Mediums der Fotografie und der Beigabe von
Nachzeichnungen. Fälschungsfragen nehmen in diesem Rahmen einen nicht unwe-
sentlichen Platz ein, wobei nicht nur rein diplomatische Kriterien zur Anwendung ge-
langten, sondern die Frage nach den Motiven für Fälschungen und Interpolationen im
225 Schaller, Tangl (wie Anm. 1) 300, bezeichnet ihn nicht unzutreffend als „gewissenhaften Arbeiter im
unerschöpflichen Steinbruch der Quellenerschließung“.
226 Vgl. etwa Michael Tangl, Der Entwurf einer Königsurkunde aus Karolingerzeit, in : NA 25 (1900) 345–
359, und in : ders., Mittelalter 1 582–591, sowie ders., Der Entwurf einer unbekannten Urkunde Karls d.
Gr. in Tironischen Noten, in : MIÖG 21 (1900) 344–350, und in : ders., Mittelalter 1 592–597.
Österreichische Historiker
Lebensläufe und Karrieren 1900–1945, Band 2
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Österreichische Historiker
- Untertitel
- Lebensläufe und Karrieren 1900–1945
- Band
- 2
- Autor
- Karel Hruza
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2012
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78764-8
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 678
- Schlagwörter
- Lebensläufe, Werke und gesellschaftliches Wirken österreichischer Historikerinnen und Historiker, Geschichtsforschung
- Kategorie
- Biographien