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76 Andrea Rzihacek und Christoph Egger
Vordergrund stand227. Aber so wie die noch vorhandenen Quellen Interpretation und
Auswertung erfuhren, beschäftigte Tangl auch die Frage nach Lücken in der Überliefe-
rung und nach verlorenen Schriftzeugnissen. Immer wieder betonte er die Relativität
aller historischen Forschung, deren Ergebnisse sich mit der Entdeckung neuer Quellen,
aber auch mit der Neuinterpretation bereits bekannter Quellen, oft völlig ins Gegenteil
verkehren konnten, und hielt fest : „[…] daß wir bei allen unseren Forschungen Skla-
ven der Überlieferung sind, von deren Reichhaltigkeit und Zuverlässigkeit, von deren
richtiger Deutung und Lesung wir ganz und gar abhängen“228. Neben der Berücksich-
tigung der größeren geschichtlichen Zusammenhänge, in denen seine Quellen standen,
war ihm darüber hinausgehend die Einbeziehung der Nachbardisziplinen ein großes
Anliegen. Interdisziplinäre Forschung, die er durch die Pflege persönlicher Kontakte
zu Kollegen anderer Forschungsrichtungen zu institutionalisieren suchte, war für ihn
Notwendigkeit und Selbstverständlichkeit229 zugleich.
Dass Michael Tangl, wie von Zeitgenossen und Biografen mehrfach bedauert, mitunter
auch kritisiert wurde, keine überblicksmäßige und zusammenfassende große Monografie
hinterlassen hat, mag der Grund dafür sein, dass sein Name heute weitgehend in Verges-
senheit geraten ist. Am Unvermögen, in größeren Zusammenhängen zu denken, und an
mangelnder Gabe zu fesselnder Darstellung liegt dies, wie mehrere gerade seiner oft ganz
kurzen Schriften zeigen230, mit Sicherheit nicht. Vielleicht ist der wahre Grund aber in
227 Vgl. etwa Michael Tangl, Die Urkunden Karls d. Gr. für Bremen und Verden, in : MIÖG 18 (1897) 53–68 ;
ders., Die Fälschungen Chrysostomos Hanthalers, in : MIÖG 19 (1898) 1–54.
228 Tangl, Judenschutzrecht (wie Anm. 141) 198. Die zu vermutende Lückenhaftigkeit der Überlieferung
schmerzte ihn besonders im Zusammenhang mit dem Fehlen von Konzepten für Herrscherurkunden :
„Es sei mir gestattet, in diesem Zusammenhang die Conceptfrage im allgemeinen in wenigen Sätzen zur
Sprache zu bringen. In unserer nach möglichster Exactheit ringenden Disciplin bedeutet sie den wunden
Punkt. Während uns bei allen anderen Ueberlieferungsformen reichliche Grundlagen zur allein richtigen
inductiven Forschung gegeben sind, fehlen sie bei den Concepten besonders aus älterer Zeit fast ganz,
und nirgends vollständiger als auf dem Gebiet der deutschen Königsurkunden […]. Wir sind hier auf
Vermuthungen und Erwägungen von recht wankender Sicherheit angewiesen.“ Tangl, Entwurf einer
Königsurkunde (wie Anm. 226) 355f.
229 In seiner Antrittsrede als Ordentliches Mitglied vor der Preußischen Akademie der Wissenschaften 1918 hob
er als einen Schwerpunkt seiner Beschäftigung mit den historischen Hilfswissenschaften die interdisziplinäre
Forschung hervor : Die historischen Hilfswissenschaften stünden „in steter Wechselbeziehung zu den ver-
wandten Wissenschaften der Philologie und Rechtsgeschichte, der Kirchen und Kunstgeschichte […]. Die
Bebauung der Grenzgebiete legen sie ihrem Vertreter als ernste Pflicht auf. In diesem Sinne habe ich in mei-
nen Arbeiten die Beziehungen zur klassischen und germanischen Philologie, zum deutschen und Kirchen-
recht zu gewinnen und festzuhalten gesucht, am nächsten wohl den Anschluß an die kirchengeschichtliche
Forschung erreicht.“ Tangl, Antrittsrede (wie Anm. 3) 704. In wortwörtlicher Anlehnung an diese Ausfüh-
rungen würdigte Kehr, Tangl (wie Anm. 6) 145f., die diesbezüglichen Bemühungen Tangls und bezeichnete
sie als „dominierenden Zug in seiner wissenschaftlichen Spezialität“ :
230 Als ein Beispiel sei nur sein im Jahr 1895 in Marburg gehaltener, glänzend formulierter Vortrag über Kon-
Österreichische Historiker
Lebensläufe und Karrieren 1900–1945, Band 2
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Österreichische Historiker
- Untertitel
- Lebensläufe und Karrieren 1900–1945
- Band
- 2
- Autor
- Karel Hruza
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2012
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78764-8
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 678
- Schlagwörter
- Lebensläufe, Werke und gesellschaftliches Wirken österreichischer Historikerinnen und Historiker, Geschichtsforschung
- Kategorie
- Biographien