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192 Hans Aurenhammer
Analysen betonen den Eigenwert einer naturfernen, abstrakten Gestaltung, ihre rein spi-
rituelle Gesetzmäßigkeit125 oder aprioristische kompositionelle Gesamterfindung126. Auf der
anderen Seite spielt nun auch der in den frühen Texten völlig vernachlässigte Bildinhalt
eine neue Rolle. So betont Dvořák 1914 in einem Vortrag über Tintoretto, der gewis-
sermaßen den Schlussstrich unter das inzwischen aufgegebene Monografie-Projekt zieht,
nicht mehr die protoimpressionistischen Effekte, sondern die dichterische Fantasie des
Künstlers. Tintoretto gestaltet die überlieferten christlichen Themen in einem großen er-
zählenden Idealstil neu127, den er bis zur visionären Expression, bis zum Übermenschlichen
und Übernatürlichen steigert128. Die reine Form wird hier als Medium der Erzählung aus
ihrer Selbstreferenzialität befreit, wird zum Ausdruck, zur Sprache, die den Ideen zu folgen
hat129.
Dvořák sieht im 16. Jahrhundert, das er weiterhin als Beginn des Barock versteht,
auch um 1912/15 einen entwicklungsgeschichtlich entscheidenden Schritt zur moder-
nen Kunst. Relevant ist für ihn jetzt aber bezeichnenderweise der subjektive Idealismus
der nachklassischen Cinquecento-Künstler, durch den das – deutlich Züge des 19. Jahr-
hunderts tragende – materialistische und religiös indifferente Quattrocento überwunden
worden sei. Der Protagonist dieses neuen großen Stils ist Michelangelo, sein übersteigertes
Pathos, seine die Wirklichkeit verachtende Souveränität, die etwa das Fresko des „Jüngsten
Gerichts“ auszeichnet130. Dvořáks kunsthistorische Neubewertungen sind selbst offen-
sichtlich einer zeitgenössischen „geistigen Wende“ verpflichtet. Auf analoge Weise sieht er
auch die idealistischen Neuerungen der Kunst des 16. Jahrhunderts in einer tiefgreifende[n]
Wandlung im Geistesleben, vor allem in den religiösen Umbrüchen der Epoche begrün-
det131. Gegenüber dem Primat der Kunstautonomie in den frühen Schriften bedeutet
dieser, wenn auch vorerst nur angedeutete geistesgeschichtliche Horizont eine wichtige
Neupositionierung.
Es ist nicht leicht zu konkretisieren, welche Avantgarde Dvořák um 1912/15 als das
Telos der künstlerischen Gesamtentwicklung ansah. Entsprechend Riegls Forderung nach
der Notwendigkeit der historischen Distanz bei der Beurteilung aktueller Kunst (der so-
125 Max Dvořák, Tizian-Fragment (ca. 1914) 17. IKWA.
126 Dvořák, Geschichte der italienischen Barockkunst 1912/13 (wie Anm. 120) 626.
127 Dvořák, Tintoretto, Vortrag 1914 (wie Anm. 108) 77.
128 Ebd. 83.
129 Ebd. 80. Zur Tintoretto-Deutung in der mittleren Periode Dvořáks ausführlich Aurenhammer, Dvořák,
Tintoretto und die Moderne (wie Anm. 5) 21–28.
130 Dvorák, Tizian und Tintoretto 1914 (wie Anm. 120) 164. Vgl. v. a. ders., Geschichte der italienischen
Barockkunst 1912/13 (wie Anm. 120) 13-525.
131 Vgl. Dvořák, Tizian und Tintoretto 1914 (wie Anm. 120) 131 ; ders., Tintoretto, Vortrag 1914 (wie Anm.
108) 97.
Österreichische Historiker
Lebensläufe und Karrieren 1900–1945, Band 2
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Österreichische Historiker
- Untertitel
- Lebensläufe und Karrieren 1900–1945
- Band
- 2
- Autor
- Karel Hruza
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2012
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78764-8
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 678
- Schlagwörter
- Lebensläufe, Werke und gesellschaftliches Wirken österreichischer Historikerinnen und Historiker, Geschichtsforschung
- Kategorie
- Biographien