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214 Ulfried Burz
ckende systematische Forschungsarbeit, die internationalen wissenschaftlichen Standards
entspricht, zu dieser schwerwiegenden Behauptung von der Geschichtsschreibung noch
nicht erbracht worden57. Dabei wäre zu berücksichtigen, dass der im Zuge der Revolution
von 1848 erhobene Ruf nach Gleichberechtigung der Nationen in Kärnten die slowe-
nischsprachige Geistlichkeit sehr schnell in eine Defensiv-Rolle gedrängt sah. Dem Klerus
kam in einem der brisantesten Probleme des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts, der
„sozialen Frage“, ein nicht geringer Stellenwert zu. Der weit verbreitete Analphabetismus
und der dadurch bedingte geringe Bildungsstand verweisen auf ein Dilemma, von dem in
Kärnten zwar nicht nur, aber vor allem die südlichen Landesteile in besonderem Ausmaß
betroffen waren58. Mitverantwortlich dafür ist die kleinbäuerliche Struktur zu machen,
die in einem Land, in dem im 19. Jahrhundert und noch am Beginn des 20. Jahrhunderts
knapp zwei Drittel der Bevölkerung im ländlichen Raum einer Beschäftigung nachgin-
gen, besonders zu beachten ist. Aufgrund der drückenden körperintensiven Arbeitsbedin-
gungen in der Land- und Forstwirtschaft war ein Bildungserwerb ungemein erschwert.
Eine Conditio sine qua non für jeden Bildungserwerb ist die Sprache. Wichtige Bil-
dungsträger und -vermittler waren, wie überall in den Agrarräumen Österreichs, lange
Zeit in erster Linie geistliche Würdenträger, altgediente Offiziere und erst ab der Mitte
des 19. Jahrhunderts zusehends ausgebildete Lehrer. Bei einer weiteren wichtigen Aufgabe
der katholischen Kirche, der Seelsorge, wurde aus verständlichen Gründen die ortsübliche
Alltagssprache verwendet. Vor 1848 und noch nach dem Ende des Ersten Weltkrieges –
das gilt in Kärnten zumindest für das ländliche Gebiet südlich der Drau – herrschte in
diesem Raum vorwiegend die slowenische Sprache vor. Die im Zuge der 1848er-Revolu-
tion oft propagierte Parole nach Gleichberechtigung in allen Lebensbereichen bedeutete
konsequenterweise auch eine Forderung nach Emanzipation beim Sprachgebrauch. In
Kärnten, dessen Landespolitik seit 1848 von Anbeginn von deutschnational-liberalen,
antiklerikalen Gruppierungen dominiert wurde, sahen diese politische Eliten ihre gesell-
schaftliche Stellung durch dieses Postulat gefährdet. An der Schul- und Sprachenfrage ent-
zündete sich ein Dauerkonflikt, der teilweise bis in die jüngste Landesgeschichte Kärntens
reicht. Dabei blieben sich Exponenten der jeweiligen Seite zwar seit jeher einander nichts
schuldig, aber das zahlenmäßig kleine slowenische Intellektuellenmilieu hatte aufgrund
der politischen Rahmenbedingungen einen geringeren Gestaltungsraum.
57 Zur Wirkungsgeschichte vgl. Martin Wutte, Oskar Lobmeyer, Die Lage der Minderheiten in Kärnten
und in Slowenien (Klagenfurt 1926) bes. 63–69 die Kapitel „Geistlichkeit und Seelsorge“, „Entlassungen und
Ausweisungen“.
58 Zum Alphabetisierungsgrad in Kärnten (1910) im Vergleich zu anderen Regionen der Habsburgermonarchie
siehe : Die Habsburgermonarchie 1848–1918 9,2 : Soziale Strukturen. Die Gesellschaft der Habsburgermonar-
chie im Kartenbild. Verwaltungs-, Sozial- und Infrastrukturen ; nach dem Zensus von 1910, bearb. v. Helmut
Rumpler, Martin Seger u.a., kartographische Umsetzung Walter Liebhart (Wien 2010), zu Kärnten 228.
Österreichische Historiker
Lebensläufe und Karrieren 1900–1945, Band 2
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Österreichische Historiker
- Untertitel
- Lebensläufe und Karrieren 1900–1945
- Band
- 2
- Autor
- Karel Hruza
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2012
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78764-8
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 678
- Schlagwörter
- Lebensläufe, Werke und gesellschaftliches Wirken österreichischer Historikerinnen und Historiker, Geschichtsforschung
- Kategorie
- Biographien