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Martin Wutte (1876–1948) 233
Alternative. Erst Ende der 1920er-Jahre sollte sich langsam ein österreichisches Staatsbe-
wusstsein entwickeln, das durch das Dollfuß-Schuschnigg-Regime unter anderem deshalb
Brüche erlebte und inkonsistent blieb, weil es zum einen über weite Strecken staatlich
quasi von oben herab verordnet worden war. Zum anderen, weil einem größeren Teil der
Bevölkerung seit dem März 1933 die politische Mitarbeit verwehrt blieb. Wutte und die
Mehrzahl der führenden „Abwehrkämpfer“ waren von Anbeginn, nicht zuletzt aufgrund
der Erfahrungen mit dem austrofaschistischen Ständestaat, über 1938 hinaus einer ge-
samtdeutschen Idee verhaftet. Dass Deutschland seit 1933 ebenfalls keine demokratische
Regierung hatte, schien im Zeitalter vieler antidemokratischer Regierungen als vernach-
lässigbares Übel zu gelten.
Wuttes Resümee in seinem Vorwort zur zweiten Auflage von „Kärntens Freiheitskampf“
ist daher nicht ein zeitbedingtes Bekenntnis, ein notwendiger Kniefall vor den neuen
Machthabern, sondern beruht auf einer schon vor und nach 1918 verstärkt gewachsenen
Überzeugung131. In der 1985 publizierten Fassung fehlt dieser Textteil ; auch die Dank-
sagung des Autors, an „Stellen und Persönlichkeiten, die die Arbeit unterstützt und die
Herausgabe des Buches ermöglicht haben“.132 Was Wutte unter Deutschland verstand, in
dem Österreich mehr als nur marginalisiert wird, lässt sich beispielhaft anhand der von
ihm gewählten Terminologie und seinen Überlegungen in einem Ende 1930 verfassten
Schreiben an einen Leipziger Publizisten ableiten : Wir völkisch fühlenden Deutschöster-
reicher kämpften schon im alten Österreich gegen die Gleichsetzung von ‚Deutschland‘ und
‚Deutsches Reich‘. Wir verstanden und verstehen unter ‚Deutschland‘ das, was der Name sagt,
das ‚deutsche Land‘ ; jetzt würden wir sagen der zusammenhängende Raum, in dem sich deut-
scher Volks- und Kulturboden decken. Es ist auch nicht logisch, das Deutsche Reich allein als
Deutschland zu bezeichnen. Das Deutsche Reich ist höchstens ‚Kleindeutschland‘, also ein
Teil Deutschlands, nicht das ganze Deutschland. Leider hat sich der Name ‚Deutschland‘ im
Sinne von ‚Deutsches Reich‘ so fest eingefressen, dass beispielsweise die reichsdeutschen Siedler
131 Wutte, Freiheitskampf (1943) (wie Anm. 1) Vorwort zur zweiten Auflage, XI : „Kaum ein Viertelhun-
dert liegt der Kärntner Freiheitskampf hinter uns und schon gehört er in unserer raschlebenden Zeit der
Geschichte an. Wohl verschwindet das Ringen um das kleine Fleckchen Erde hinter den großen, auch für
Kärnten entscheidenden Ereignissen des Jahres 1938 und dem überwältigenden Geschehen des neuen Welt-
krieges. Dennoch hat es an und für sich an Bedeutung nicht verloren, im Gegenteil, erst heute, wo das letzte,
von Kärnten heißersehnte Ziel : die Vereinigung mit dem Mutterlande erreicht ist, erkennt man seine volle
Bedeutung und wird klar, daß die Kärntner, viele bewußt, manche unbewußt, in ihrem Freiheitskampf nicht
bloß um die Grenze ihrer Heimat, sondern auch um die Grenze Großdeutschlands gekämpft haben.“
132 Vgl. Wutte, Freiheitskampf (1943) (wie Anm. 1) XII, mit Neumann, Einleitung (wie Anm. 2) XVII :
„Abgesehen von wenigen Passagen mit zeitbedingter Phraseologie, die hier den an solcher Kontrolle Inte-
ressierten offen mitgeteilt seien, vgl. die Seiten : 38, 90, 167, 224, 268, 283, 343, 411, 415f., konnte die
Neuauflage unverändert bleiben.“ Auf zwei weitere Texteingriffe weist lediglich die Überschrift – „Aus dem
Vorwort zur zweiten Auflage“ – hin. Ebd. XIII (Hervorhebung Burz).
Österreichische Historiker
Lebensläufe und Karrieren 1900–1945, Band 2
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Österreichische Historiker
- Untertitel
- Lebensläufe und Karrieren 1900–1945
- Band
- 2
- Autor
- Karel Hruza
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2012
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78764-8
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 678
- Schlagwörter
- Lebensläufe, Werke und gesellschaftliches Wirken österreichischer Historikerinnen und Historiker, Geschichtsforschung
- Kategorie
- Biographien