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Einleitung
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schaftlers Daniele Giglioli, die auf die Arbeiten von Chaumont, Benbassa und
Annette Wieviorka (2006) referieren, gaben schließlich den unmittelbaren Impuls
für die 2018 in Innsbruck durchgeführte internationale Tagung Opfernarrative
in transnationalen Kontexten/Victim Narratives in Transnational Contexts. Der
diskursiv erzeugte und juristisch fixierte Opferstatus, so Giglioli in Critica della
vittima: Un esperimento con l’etica (2014), weise dem Opfer moralische Überle-
genheit zu und schütze es vor jeglicher Kritik, ja mache es geradezu unangreifbar.
Außerdem lege es den Menschen auf eine Objektposition fest und befreie ihn von
der Pflicht wie auch von der Möglichkeit, Eigenverantwortung zu übernehmen.
Daher stelle der allgegenwärtige ‚Opferkult‘ eine rückwärtsgewandte Ideologie
dar, die eine in die Zukunft gerichtete Handlungsorientierung für Individuen und
Gesellschaften verhindere.
Gigliolis Polemik erweist sich insbesondere dann als treffsicher, wenn es
um die massenmediale Kommunikation über Opfer und Opfergruppen geht, die
letzten Endes ausschlaggebend dafür ist, dass eine Opfergruppe in der jeweili-
gen Mehrheitsgesellschaft auch Anerkennung findet. Wie Martin Schulze Wessel
argumentiert, hat die massenmediale Darstellung von Opfer narrativen einen
entscheidenden Einfluss auf die öffentliche Wahrnehmung. Zu den Darstellungs-
formen, die die massenmediale Aufmerksamkeit begünstigen, gehören insbe-
sondere hohe Opferzahlen, die Möglichkeit der exemplarischen Erzählung und
Visualisierbarkeit des Erlittenen oder auch die absolute Unschuld des Opfers.
Vor allem aber ist die massenmediale Kommunikation mit einer „unzweideuti-
gen Verteilung von Tätern und Opfern“ und mit „einem Zwang zur Eindeutigkeit“
(Schulze Wessel 2012, 4) verbunden.
Literarische Texte und andere künstlerische Ausdrucksformen vom Theater,
über Fotografie und Film bis hin zu bildkünstlerischen Darstellungen unterliegen
diesen Vereindeutigungszwängen deutlich weniger. Sie zeichnen sich insbeson-
dere dadurch aus, dass sie von der Mehrheitsgesellschaft vergessene Stimmen
hörbar und aus dem kollektiven Gedächtnis Ausgeblendetes sichtbar machen
können. Abgesehen davon haben gerade literarisch-künstlerische Texte und ihre
auf ‚Mehrstimmigkeit‘ abzielenden ästhetischen Strategien das Potenzial, kom-
plexe Konstellationen von Opfern, Täter*innen, Mittäter*innen, Zeug*innen und
Beobachter*innen zur Darstellung zu bringen, ambivalente Figuren von Opfertä-
tern und Täteropfern zu schaffen und Erinnerungshierarchien zu destabilisieren.
Vor allem aber verfügen künstlerische Artefakte, gerade auch wenn sie Opfernar-
rative transnational perspektivieren (wie beispielsweise häufig im Fall von sog.
Migrationsautor*innen), über vielfältige Möglichkeiten, Prozesse des Erinnerns
wie auch des Verdrängens und Vergessens zu inszenieren und auch zu reflektie-
ren. In Bezug auf die Figur des Opfers kann dies auch bedeuten, dieses als einen
„stets unbegreiflich bleibende[n] Anderen“ (Nagy in diesem Band) zu konzeptua-
Opfernarrative in transnationalen Kontexten
- Titel
- Opfernarrative in transnationalen Kontexten
- Herausgeber
- Eva Binder
- Christof Diem
- Miriam Finkelstein
- Sieglinde Klettenhammer
- Birgit Mertz-Baumgartner
- Marijana Milošević
- Verlag
- De Gruyter Open Ltd
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-11-069346-1
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 350
- Schlagwörter
- Opfernarrative, zeitgenössische Literatur, transnationale Erinnerung, Transnationalität
- Kategorie
- Lehrbücher