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Einleitungâ â
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kann mit der treffenden Formulierung âFrom Heroes to Victims to Survivorsâ, wie
der Titel eines Vortrags von Valentina Pisanty auf der Simon-Wiesenthal-Konfe-
renz Inglorious Victims? im Jahr 2017 lautete, auf den Punkt gebracht werden. Das
Opfer â der*die Ăberlebende â wird sich des dem Trauma inhĂ€renten âimperative
to liveâ (Caruth 2013, 6) bewusst, tritt aus seiner passiven Rolle heraus und erhebt
â in autobiografischen Texten, autobiografischen Romanen oder dem dokumen-
tarischen Theater â die eigene Stimme. Zwar bergen autobiografische Zeugnisse
die Gefahr der Selbstzensur bzw. des âselbst auferlegte[n] Tabusâ (Loreto Vilar) â
insbesondere dann, wenn die Stimmen der Opfer hegemoniale MetaerzÀhlungen
wie die des Kommunismus zu destabilisieren und zu âtrĂŒbenâ in der Lage sind
(wie im Falle der Gulag-Opfer in der DDR). Allerdings sind faktuale ebenso wie
fiktionale Texte â insbesondere das gerade erwĂ€hnte dokumentarische Theater
â geeignete Medien, um Opfer zu individualisieren und ihnen jenseits kollektiver
(oft auch massenmedial vermittelter) Zuschreibungen eine Stimme zu verleihen.
Derartige Individualisierungsprozesse schaffen nuan
cierte, nicht-widerspruchs-
freie Opferfiguren, die sich einer passivierenden âOpfermythologieâ (Giglioli
2014, 116) versagen und in staatlich gelenkten, heroisierenden Erinnerungs- und
Opferdiskursen wenig Platz finden.
Anna Brod geht in ihrem Beitrag âAnerkennung als Opfer und Ăber windung
von Viktimisierungen: Zwei TheaterstĂŒcke zum NSU im Vergleichâ der Frage
nach, inwieweit sich das zeitgenössische dokumentarische Theater fĂŒr die Aus-
verhandlung verschiedener Opferperspektiven eignet. Anhand zweier aktueller
TheaterstĂŒcke, die die mediale Fokussierung auf die TĂ€ter*innen des 2011 selbst-
enttarnten NSU um die marginalisierte Perspektive von Betroffenen und Ange-
hörigen erweitern und dadurch unterwandern wollen, untersucht die Autorin
das politische Potenzial des âneuen Dokumentarismusâ. Kritisches Augenmerk
legt Brod dabei auf den von den beteiligten Theaterschaffenden wiederholt pro-
klamierten Anspruch, den Opfern und Angehörigen durch Einbindung in Dra-
matisierung und AuffĂŒhrung eine Plattform zur Zeugenschaft zu schaffen, eine
umfassendere âWahrheitâ zu zeigen und die Zuschauer*innen zur Reflexion medi-
aler ReprÀsentationsproblematiken anzuregen.
Maria Loreto Vilar verdeutlicht in ihrem Beitrag mit dem Titel ââEr hat
all die Jahre geschwiegenâ: Zwischen Tabu und Tabubruch in Memoiren von
Gulag-Opfern aus der DDRâ die Funktion und die Problematik der Erinnerung
an die Inhaftierung in sowjetischen Lagern. Als Beispiele dienen der Autorin
die Memoiren von Trude Richter (Totgesagt: Erinnerungen), Helmut Damerius
(Unter falscher Anschuldigung: 18 Jahre in Taiga und Steppe) und Wolfgang Ruge
(Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion). Richter, Damerius und Ruge
emigrierten Anfang und Mitte der 1930er Jahre in die Sowjetunion, wurden dort
in den Gulag geschickt und konnten erst Mitte der 1950er Jahre rehabilitiert in
Opfernarrative in transnationalen Kontexten
- Titel
- Opfernarrative in transnationalen Kontexten
- Herausgeber
- Eva Binder
- Christof Diem
- Miriam Finkelstein
- Sieglinde Klettenhammer
- Birgit Mertz-Baumgartner
- Marijana MiloĆĄeviÄ
- Verlag
- De Gruyter Open Ltd
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-11-069346-1
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 350
- Schlagwörter
- Opfernarrative, zeitgenössische Literatur, transnationale Erinnerung, TransnationalitÀt
- Kategorie
- LehrbĂŒcher