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Eingeblendete NS-Opfernarrative
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Eigenleben, dass sie sich gegen Textende quasi-filmisch überblenden. Indem
dies imaginativ und damit für das retinale Sehen unsichtbar geschieht, wird bei
der Überblendung mit der bekannten Getto-Aufnahme gerade die fotografische
Latenz profiliert. Im Entwicklerbad der Dunkelkammer ist hiermit eben die spu-
renhafte, noch verschwommene Sichtbarwerdung des Abgelichteten gemeint.
Im Gegensatz hierzu steht die Bilderflut zum Gräuel der Shoah, deren Entde-
ckung für Susan Sontag in On Photographie (1977) noch ein Schlüsselerlebnis dar-
stellt, wenn sie als Zwölfjährige KZ-Aufnahmen aus Bergen-Belsen und Dachau
entdeckt: „Nichts, was ich jemals gesehen habe, – ob auf Fotos oder in der Reali-
tät – hat mich so jäh, so tief und unmittelbar getroffen“ (1995, 25–26). Retrospek-
tiv ergänzt Sontag allerdings: „Hat man einmal solche Bilder betrachtet, dann
ist man bereits auf dem Weg, mehr davon zu sehen – und immer mehr. Bilder
lähmen. Bilder betäuben“ (1995, 26). Eben dieser nachlassenden Schockwirkung
werden in Umschlagplatz die Bildränder entgegengesetzt, die im Familienal-
bum dem widersprechen, was fotografisch ansonsten in Überfülle dokumentiert
wurde. Die Abzüge schockieren den Selbst-Betrachter in Umschlagplatz deswe-
gen, weil das Medium der apparativen Augenzeugenschaft die Gräueltaten aus-
spart, was eine Besprechung, teils geradezu Beschwörung latenter Opferbilder
aus dem Off initiiert und in narrativen Konjunktiven kompensiert.
2 Opfer-Erbschaften durch latent erahnte
Zeugungsakte
In Sie kam aus Mariupol von 2017 spekuliert Natascha Wodin, Jahrgang 1945,11
über das Schicksal ihrer ukrainischen Mutter, die sich, als die Autorin elf Jahre
alt war, das Leben nahm:
Sie hatte vor über neunzig Jahren gelebt, nicht irgendwelche Jahre, sondern die Jahre des
Bürgerkriegs, der Säuberungen und Hungerkatastrophen in der Sowjetunion, die Jahre des
Zweiten Weltkriegs und des Nationalsozialismus. Sie war in den Reißwolf zweier Diktaturen
geraten, zuerst unter Stalin in der Ukraine, dann unter Hitler in Deutschland. (Wodin 2017,
10)
11 Die deutsche Schriftstellerin und Literatur-Übersetzerin aus dem Russischen ist Tochter von
Zwangsarbeitern aus der Ukraine und heißt eigentlich Natalja Vdovina. Nach Kriegsende lebte
sie mit ihrer Familie unter verheerenden Verhältnissen in deutschen Lagern. Für Sie kam aus
Mariupol wurde sie 2017 mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet.
Opfernarrative in transnationalen Kontexten
- Titel
- Opfernarrative in transnationalen Kontexten
- Herausgeber
- Eva Binder
- Christof Diem
- Miriam Finkelstein
- Sieglinde Klettenhammer
- Birgit Mertz-Baumgartner
- Marijana Milošević
- Verlag
- De Gruyter Open Ltd
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-11-069346-1
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 350
- Schlagwörter
- Opfernarrative, zeitgenössische Literatur, transnationale Erinnerung, Transnationalität
- Kategorie
- Lehrbücher