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30â â Gudrun Heidemann
Der Leitspruch ihrer als Opfer unterschiedlicher Regime traumatisierten Mutter
lautet âWenn du gesehen hĂ€ttest, was ich gesehen habeâŠâ (Wodin 2017, 319).
Eben dieser im Konjunktiv gehaltenen Aussparung widmet sich der GroĂteil des
Textes, denn die Tochter stöĂt bei einer zunĂ€chst eher spielerischen Internet-
recherche nach der Mutter tatsÀchlich auf einen Eintrag:
Als ich diesen Namen in einer Sommernacht des Jahres 2013 ins russische Internet einge-
geben hatte, lieferte mir die Suchmaschine prompt ein Resultat. [âŠ] Ich öffnete den Link
und las: Iwaschtschenko, Jewgenia Jakowlewna, Geburtsjahr 1920, Geburtsort Mariupol.
Ich starrte auf den Eintrag, er starrte zurĂŒck. (Wodin 2017, 10â11)
Dieser digitale Fund löst ĂŒber Hunderte von Buchseiten eine Ansammlung neuer
Fakten, Dokumente, Schriften und Fotos sowie digitale Begegnungen mit der
russisch-ukrainischen Verwandtschaft aus, was den Stammbaum einer aristo-
kratischen Familie erstellen lĂ€sst (Wodin 2017, 367â368). Durch eben dieses mul-
timediale Archiv schlieĂen sich zahlreiche LĂŒcken derjenigen Erinnerungen, die
vor der elterlichen Ankunft in Deutschland liegen. Ăber die folgende Zeit bis zum
Tod der Mutter 1956 erfĂ€hrt Wodin am wenigsten: âIn meiner Erinnerung war sie
nur noch ein Schemen, mehr ein GefĂŒhl als eine Erinnerungâ (2017, 10). Hierzu
gehören einschneidende Erlebnisse wie SchlÀge des alkoholisierten Vaters (2017,
307â308), GewaltausbrĂŒche, bei denen die verzweifelte Mutter ihre Tochter
physisch angreift (2017, 351), sexueller Missbrauch durch einen Lagerinsassen
(2017, 318â319) oder das schmerzhafte AuĂenseitertum in der deutschen Volks-
schule (2017, 332â336). âIn den Tiefen [âŠ] [ihrer] Erinnerungâ (2017, 306) verortet
Wodin Ăbergriffe, die sie als Kind nicht versteht und durch die sie den elterli-
chen Opfer-Status âerbtâ. Durch diese erschreckende Ăbertragung verletzen die
durch Zwangsarbeit in Deutschland und den spÀteren Aufenthalt im Valka-Lager
schwer beschÀdigten Eltern ihre eigene Tochter physisch wie psychisch. Als auf-
schlussreich erweist sich dabei, dass die Autorin explizit darĂŒber spekuliert, wie
sich dieses Erbe bereits in den eigenen Zeugungsakt einschrieb:
Ich stelle mir vor, es ist ein Sonntag, der Tag, den die meisten Arbeiter zum Schlafen nutzen.
[âŠ] Aber dieser Sonntag im frĂŒhen MĂ€rz, der FrĂŒhling liegt schon in der Luft, ist ein Festtag
fĂŒr meine Eltern. Sie haben Ausgang bekommen und verlassen gemeinsam das Lagerge-
lĂ€nde. [âŠ] Beide tragen das vorgeschriebene Abzeichen âOSTâ [âŠ]. Vielleicht passiert es an
diesem Tag, vielleicht finden sie irgendwo in den Ruinen ein Versteck. Vielleicht bin ich
aber auch das Resultat einer gehetzten, atemlosen Umarmung irgendwo im Lager, wo sie
jeden Augenblick entdeckt werden können, womöglich gewittert von einem der SchÀfer-
hunde, mit deren Hilfe das Wachpersonal nach FlĂŒchtlingen sucht. Vielleicht ist meine
Zeugung einem Moment des Leichtsinns geschuldet, weil bereits das Ende des Krieges in
der Luft liegt. (Wodin 2017, 281â283)
Opfernarrative in transnationalen Kontexten
- Titel
- Opfernarrative in transnationalen Kontexten
- Herausgeber
- Eva Binder
- Christof Diem
- Miriam Finkelstein
- Sieglinde Klettenhammer
- Birgit Mertz-Baumgartner
- Marijana MiloĆĄeviÄ
- Verlag
- De Gruyter Open Ltd
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-11-069346-1
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 350
- Schlagwörter
- Opfernarrative, zeitgenössische Literatur, transnationale Erinnerung, TransnationalitÀt
- Kategorie
- LehrbĂŒcher