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Eingeblendete NS-Opfernarrative
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Die wiederholt als Möglichkeiten – „Ich stelle mir vor“, „vielleicht“ – geschil-
derten Zeugungsumstände stehen dem Faktenwissen, dessen digitales Zusam-
mentragen von einem Mecklenburger See aus ausgiebig geschildert wird, als
konjunktivische Einblendung entgegen (Hufen 2017). Analog zur ‚Selbstzeugung‘
löst der überraschend auftauchende Lebensbericht von Wodins Tante Lidia Spe-
kulationen über die Zeugung der Mutter aus, die in einer Bürgerkriegsnacht 1919
während eines Besuchs des Großvaters bei seiner Frau vermutet wird:
Ein fünfundfünfzigjähriger Mann und eine zweiundvierzigjährige Frau, deren Haar über
Nacht weiß geworden ist vor Grauen, zeugen in einem Augenblick unvorsichtiger Selbstver-
gessenheit ein Kind. […] Vermutlich sind sie ausgehungert nach einander, vielleicht denken
sie, dass sie sich zum letzten Mal in den Armen halten. (Wodin 2017, 181)
Bedeutsam ist hierbei, dass die Autorin zuvor durch die Aufzeichnungen ihrer
Tante von einem Einbruch ins großelterliche Haus erfährt, bei dem die Weiß-
gardisten eine Waffe auf die Großmutter richteten (Wodin 2017, 180). Die hierbei
erlebte Todesangst lässt sie über Nacht ergrauen (Wodin 2017, 181), wodurch sich
für die Enkelin nunmehr das Rätsel über
die weißhaarige Frau auf dem Foto mit meiner jungen Mutter [löst]. Matilda war schon weiß-
haarig, als sie meine Mutter mit dreiundvierzig Jahren zur Welt brachte. Eine weißhaarige
Gebärende, eine Weißhaarige, die einen Säugling stillt. Davor hatte sie wahrscheinlich
schwarzes Haar gehabt, wie meine Mutter. (Wodin 2017, 181)
Das entsprechende Foto (Abb. 2) zeugt nicht nur von einer grausamen Vorge-
schichte, die sich um das Ergrauen der Großmutter dreht, sondern weist hier-
durch eine Latenz auf, die Schilderungen eines möglichen Zeugungsakts, der
gleichfalls unter den Vorzeichen erlittener Gewalt steht, auslöst. Im Gegensatz
hierzu steht das Internet, das als Medium der sekundären Oralität Verbindungen
zur entfernten mütterlichen Verwandtschaft herstellt, der die Autorin auf digita-
lem Wege begegnet und deren Dokumente die „Blackbox“ (Wodin 2017, 53) der
frühen Familiengeschichte öffnen. Dagegen erweisen sich die deutsche Zwangs-
arbeiterepisode und das Leiden als Fremde kurz nach Kriegsende sowie in der
Abb. 2: Wodins weißhaarige Großmutter und
dunkelhaarige Mutter, ca. 1938
Opfernarrative in transnationalen Kontexten
- Titel
- Opfernarrative in transnationalen Kontexten
- Herausgeber
- Eva Binder
- Christof Diem
- Miriam Finkelstein
- Sieglinde Klettenhammer
- Birgit Mertz-Baumgartner
- Marijana Milošević
- Verlag
- De Gruyter Open Ltd
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-11-069346-1
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 350
- Schlagwörter
- Opfernarrative, zeitgenössische Literatur, transnationale Erinnerung, Transnationalität
- Kategorie
- Lehrbücher