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32 Gudrun Heidemann
‚jungen‘ Bundesrepublik als ähnlich spekulativ wie die erwogenen Umstände der
mütterlichen und eigenen Zeugung vor der Folie von Opfernarrativen, die eine
entsprechende Erbschaft ankündigen. Dass fiktionale Selbstdarstellungen mit-
unter abstruse Züge annehmen, zeigt Wodins amüsanter Hinweis auf die ‚rus-
sische‘ Selbsterfindung Iwan Rebroffs, mit dem ihr Vater in einem Kosakenchor
sang. In der Bundesrepublik galt Rebroff „als Verkörperung der russischen Seele
[…], obwohl er mit Russland rein gar nichts zu tun hatte. Er war ein Deutscher, der
weder Iwan noch Rebroff hieß, sondern Hans Rippert“ (Wodin 2017, 349). Wodin
wird als Schulkind nicht nur gehänselt, sondern sogar gedemütigt:
[D]ie Lehrerin, eine germanische Blondine mit stahlblauen Augen, die nie den Rohrstock
aus der Hand legt und nicht mit den gefürchteten Tatzen spart, ist kein Schutz für mich, im
Gegenteil. Mit ihren Erzählungen von den Gräueltaten der Russen, von ihrer Mordgier und
Brutalität, fordert sie meine Mitschüler geradezu dazu auf, über mich herzufallen. (Wodin
2017, 332)
Angesichts dieses Schulalltags verleugnet das Mädchen zwecks Selbstaufwertung
ihre leiblichen Eltern und erfindet eine aristokratische Familiengeschichte: „[I]n
Wirklichkeit würde ich aus einer reichen Fürstenfamilie stammen, die Schlösser
und Güter besaß“ (Wodin 2017, 25). Jahrzehnte später bewahrheitet sich diese
Selbsterfindung zum Teil. Demgegenüber bleibt die Zeit seit Ankunft der Eltern
in Deutschland weitgehend im Dunkeln bzw. äußert sich in bruchstückhaften
Traumati
sierungen. Wie Böttiger (2017) in seiner Rezension feststellt, handelt es
sich um ein historisches „Kapitel, das fast völlig unbekannt ist. Das angenähte
Zeichen ‚O‘ für ‚Ostarbeiter‘ stand wie der gelbe Stern der Juden für schlimmste
Unterdrückung und elendste Bedingungen“.
3 Leere Fotoecken und historische Irritationen:
Latenz-Effekte im Comic
In ihrem Debüt-Comic Liebe schaut weg von 2007 wendet Line Hoven, Jahr-
gang 1977,12 eine aufwändige Schabtechnik an, indem sie Konturen in Papier-
bögen ritzt, die zuvor zunächst mit weißer Kreide, dann mit schwarzer Tusche
beschichtet wurden. Diesem Verfahren kommt bei der Visualisierung von Erin-
12 Die deutsche Comic-Autorin studierte unter anderem an der Hamburger Hochschule für An-
gewandte Wissenschaft bei Anke Feuchtenberger und ATAK (Georg Barber). Für Liebe schaut weg
(Hoven 2007), ihre Diplomarbeit, erhielt sie 2008 den Independent-Comic-Preis (Mahrt 2008).
Opfernarrative in transnationalen Kontexten
- Titel
- Opfernarrative in transnationalen Kontexten
- Herausgeber
- Eva Binder
- Christof Diem
- Miriam Finkelstein
- Sieglinde Klettenhammer
- Birgit Mertz-Baumgartner
- Marijana Milošević
- Verlag
- De Gruyter Open Ltd
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-11-069346-1
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 350
- Schlagwörter
- Opfernarrative, zeitgenössische Literatur, transnationale Erinnerung, Transnationalität
- Kategorie
- Lehrbücher