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Eingeblendete NS-Opfernarrative
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nerung besondere Bedeutung zu, da das Abkratzen schwarzer Schabkartons
gängigen Metaphern zum Vorgang des Erinnerns und Vergessens ähnelt, wie
diese bereits in Platons Theätet als Wachstafel oder bei Freud als ebenso über-
schreibbarer wie löschbarer Wunderblock mit Spuren (des Unbewussten) vorge-
stellt werden (Felka 2004). Vergegenwärtigung von Vergangenem erfolgt in dem
Comic in Weißschwarzkontrasten, durch weiße Striche, die penible Konturen
erzeugen (Steinaecker 2017; Platthaus 2009; Kupczyńska 2013). Sichtbar werden
dadurch Momentaufnahmen aus dem Familienarchiv der Autorin. Sie zeigen
den Großvater väterlicherseits als Hitlerjungen, den Großvater mütterlicherseits
als kriegswilligen ameri
kani schen Patrioten, das Kennenlernen der Eltern und
deren Familien in Bonn sowie die junge Familie bis in die 1970er Jahre vor jeweils
zeittypischen Kulissen. Visuell entsteht durch die Schabtechnik ein fotogleicher
und damit latent wirkender Negativ-Effekt, der den Comic mit einem Fotoalbum
analogisiert und hiervon zugleich absetzt. Schwarz sind auch die meist geome-
trischen Sprechblasen, die oft fast unmerklich in die Panels integriert sind und
gerade dadurch irritieren.
Durch die fotografischen Anleihen referiert der Comic autoreflexiv auf seinen
medienhistorischen Status als Nachfolgemedium, das sich aber gerade im Gegen-
satz zur – wenn letztlich auch vermeintlichen – fotografischen Realitätsabbil-
dung durch zeichnerisches Handwerk samt (Hand)Schrift vom apparativ erzeug-
ten Lichtbild unterscheidet und dadurch das Fiktive der Narrationen geradezu
ausstellt.13 Eben diese mediale bzw. remediale, also auf das Vorgängermedium
referierende Folie nutzt Hoven für ihre postmemoriale Erzählung in Liebe schaut
weg, wodurch das Dargestellte stets im Konjunktiv bleibt.14
Erkennbar ist dies vor allem an Schriftstücken und Fotos, die einerseits
als dokumentarische Reliquien der Familiengeschichte fungieren, anderer seits
Zeichnungen sind, für die es möglicherweise keine Vorlagen gibt. Auffallend in
den Blick geraten diese als Quasi-Titel der jeweiligen Kapitel, die deren Inhalte
13 Platthaus konstatiert grundlegend: „Es ist kein Zufall, dass es Comics erst seit etwas mehr als
hundert Jahren gibt, denn zuvor entstand kein Bedarf an dieser Erzählform. Dann aber, als Bil-
der zu identischen Darstellungen des Wirklichen werden konnten, bekam die graphische Erzähl-
form ihren Reiz“ (2009, 6). Der Medientheoretiker Marshall McLuhan insistiert noch allgemeiner
darauf, dass zum Verständnis eines Mediums das Wissen um seine „relations to other media, old
and new“ (1994, 202) unerlässlich ist. Auch seine Nachfolger in der New Media Theory betonen
„the representation of one medium in another“ (Bolter und Grusin 1999, 45), wobei das jeweils
neuere Medium gerechtfertigt sei, „because it fills a lack or repairs a fault in its predecessor“
(Bolter und Grusin 1999, 60).
14 Zu einem ähnlichen konjunktivischen Erzählverfahren bei Marcel Beyer und Paweł Huelle
vgl. Heidemann 2017.
Opfernarrative in transnationalen Kontexten
- Titel
- Opfernarrative in transnationalen Kontexten
- Herausgeber
- Eva Binder
- Christof Diem
- Miriam Finkelstein
- Sieglinde Klettenhammer
- Birgit Mertz-Baumgartner
- Marijana Milošević
- Verlag
- De Gruyter Open Ltd
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-11-069346-1
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 350
- Schlagwörter
- Opfernarrative, zeitgenössische Literatur, transnationale Erinnerung, Transnationalität
- Kategorie
- Lehrbücher