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Eingeblendete NS-Opfernarrative
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torischer Umstände auszumachen ist, sodass die Gründe für den Schrecken des
Jungen unklar bleiben, oder auf die Irritation aufgrund eines fehlenden Filmzi-
tats zur Kopplung von Erinnerungen an die Anfänge des Radios zurückgehen.
An den Bildrändern von Kindheitsfotografien aus glücklichen Sommer-
tagen macht Rymkiewicz Altersgenossen aus, die zeitgleich in nahe gelegenen
Gettos eingesperrt waren und damit latent im Familienalbum aufblitzen. Narrativ
werden die jungen Opfer auf Fotos entdeckt und aufbewahrt, deren Ferienposen
im Wissen um die Dokumentation „des Dagewesenseins“ (Barthes 1990, 39; Bour-
dieu 1981, 31)20 den erhobenen Händen auf mehr oder minder bekannten Getto-
fotografien vehement widersprechen. Auch bei Wodin ist es die Latenz der Foto-
grafie, die die junge Mutter21 neben einer ergrauten Frau zeigt, die ein weiteres
Opfer in der eigenen Genealogie darstellt. Vor allem aber initiiert die Autorin die
bewusste Erfindung intimer Zeugungsakte als eine Opfer-Erbfolge, die bis zu ihr
selbst reicht. Hoven dagegen kalkuliert eine Unzuverlässigkeit in der Familien-
erinnerung ein, die ebenso Opfer-Täter-Zuschreibungen betrifft. Daher erweist
sich auch die Episode, in der der Medizinstudent Richard um die Hand der ameri-
kanischen Studentin Charlotte, Tochter des einst kriegswilligen amerikanischen
Patrioten, anhält, als lückenhaft (Abb. 10). Im ersten Panel schaut Charlottes
Vater jemanden unzufrieden an, ihre Mutter beobachtet angestrengt, im zweiten
Panel stammelt Richard „Ähh … Mr Lorey, may I …“, im dritten Panel erscheint
eine dunkle menschenleere Gasse und im vierten Panel sind zwei Weingläser,
eines mit einer ‚traurigen Neige‘, sowie eine Rechnung und ein leerer Stuhl zu
sehen. Die Szenerie wirkt gerade durch die ausgesparten Momente des Handan-
haltens und der offensichtlichen, aber eben nicht gezeigten Ablehnung bedrü-
ckend. Von diesen Auslassungen zeugen neben dem Schweigen und Stottern
in den letzten beiden Panels die Visualisierung des Verlassenen und insgesamt
die abrupten Bildwechsel. Letztgenannte erinnern zugleich an filmische Bild-
sprünge, wodurch ebenso ein gezieltes Wegschauen in den unangenehmsten
Augenblicken erfolgt wie eine fotoanaloge Erstarrung als visuelle Fixierung, was
das Geschehen dramatisiert, indem es derart entschleunigt zugleich Schock-
20 Konrad Köstlin zufolge „sind wir zu Historikern unserer selbst geworden“ (1995, 399).
21 Die auch fotografische Suche nach der Mutter erinnert an Barthesʼ Die helle Kammer (1985),
worin der Autor in seiner Trauer um den Tod der Mutter eine authentische Ablichtung zu finden
hofft, die nicht nur die gewesene Existenz bestätigt, sondern die Mutter so zeigt, wie er sich an
sie erinnert. Von einer solchen ‚Lichtspur‘ zeugt schließlich ein nicht abgedrucktes Wintergar-
tenfoto, das Barthes’ Mutter als Fünfjährige zeigt (Barthes 1985, 77–78) und das in der zweiten
Essayhälfte im Fokus seiner fotografischen Re-Visionen steht. Zentral ist auch in W. G. Sebalds
Austerlitz (2001, 350–352) der Versuch, die Mutter mittels filmischer Standbilder quasi-fotogra-
fisch ausfindig zu machen.
Opfernarrative in transnationalen Kontexten
- Titel
- Opfernarrative in transnationalen Kontexten
- Herausgeber
- Eva Binder
- Christof Diem
- Miriam Finkelstein
- Sieglinde Klettenhammer
- Birgit Mertz-Baumgartner
- Marijana Milošević
- Verlag
- De Gruyter Open Ltd
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-11-069346-1
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 350
- Schlagwörter
- Opfernarrative, zeitgenössische Literatur, transnationale Erinnerung, Transnationalität
- Kategorie
- Lehrbücher