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Opfer ausstellen
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„transportiert“ werden können. Auf der Webseite von Yad Vashem ist dieses Foto
hingegen der Verschickung aus dem Warschauer Ghetto im Sommer 1942 (nicht
1943) zugeordnet („Deportation“ 2017). Namentlich jüdischen Opfern zugeordnet
sind einzig der Facharbeiterausweis von Israel Sabalski sowie das Cover eines
Tagebuchs von Grigory Schur aus dem Ghetto und später dem Arbeitslager Kailis.
Aus letzterem zitiert wird aber nicht. Ein Gruppenfoto zeigt unzählige Menschen,
die als „heads of Vilnius ghetto“ vorgestellt werden, darunter Jacob Gens. Die
einzigen namentlich jüdischen Opfern zugeordneten Fotos zeigen also beide den
umstrittenen Vorsitzenden des Judenrats Gens; ein Titelbild bezeugt das Vorhan-
densein jüdischer Zeugnisse aus dem Ghetto, daraus zitiert wird jedoch nicht, die
Opfer kommen nicht selbst zu Wort.
Die „Ghetto-Chronik“ besteht aus unzähligen Daten, Opferzahlen und Fakten
und rattert unpersönlich die Geschichte der Vernichtung herunter, etwa für 1941:
„20 September: 403 Jews from Nemenčinė killed. 22 September: 1,159 Jews from
Naujoji Vilnia killed. 24 September: 1,767 Jews from Riešė killed. 25 Septem-
ber: 575 Jews from Jašiūnai killed“ usw. Schließlich fällt noch auf, dass die in
dieser kleinen Ausstellung behandelten Opfer „transportiert“ werden, während
für die Opfer sowjetischen Terrors durchgängig der Begriff „deportiert“ verwen-
det wurde. Die Ausstellung in dieser Zelle erweckt den Eindruck, es gäbe kein
Bildmaterial von der Shoa in Litauen, und die visuellen Repräsentationen der
jüdischen Opfer als Zahlen und anonyme Masse stehen in starkem Kontrast zur
Empathie weckenden individualisierenden Darstellung ‚unserer‘ Opfer.
3 Fokus auf Opfer – wo bleiben die Täter*innen?
In diesem dritten Teil gehe ich der Frage nach, inwiefern die in dem kroatischen
und dem slowakischen Museum erkennbare Konzentration auf die Opfer und
den heldenhaften Widerstandskampf die Aufarbeitung der Täterschaft und Mit-
verantwortung des eigenen Kollektivs zu kurz kommen lässt, während in Ungarn
und Litauen die Fokussierung auf die Opfer kommunistischen Terrors die Dar-
stellung aller vom sozialistischen Regime Verfolgten als Opfer erlaubt, auch der
ehemaligen NS-Kollaborateur*innen.
3.1 Slowakische und kroatische Aufarbeitung als
Lippenbekenntnis?
Der teilweisen Übernahme archetypischer Formen des Ausstellens von Holo-
caust-Geschichte und der ‚Anrufung‘ Europas steht ein stark nationalistisches
Opfernarrative in transnationalen Kontexten
- Titel
- Opfernarrative in transnationalen Kontexten
- Herausgeber
- Eva Binder
- Christof Diem
- Miriam Finkelstein
- Sieglinde Klettenhammer
- Birgit Mertz-Baumgartner
- Marijana Milošević
- Verlag
- De Gruyter Open Ltd
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-11-069346-1
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 350
- Schlagwörter
- Opfernarrative, zeitgenössische Literatur, transnationale Erinnerung, Transnationalität
- Kategorie
- Lehrbücher