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74â â Hajnalka Nagy
Texte mit Astrid Erll (2011, 202) zum einen eine gedÀchtnisbildende Funktion,
indem sie marginalisierte oder gar getilgte Erinnerungen in die Ăffentlichkeit lan-
cieren und auf diese Weise erzÀhl- und erinnerbar machen. Zum anderen können
sie auch eine gedÀchtnisreflexive Funktion haben, indem sie die Erinnerungs-
vielfalt einer Gesamtgesellschaft prÀsentieren, Prozesse des Erinnerns und
Vergessens inszenieren und reflektieren sowie Erinnerungshierarchien unter-
wandern. Beide Modi bewegen die Leser*innen zur Revidierung eigener Deu-
tungsmuster, indem sie ihnen zur kritischen Beobachtung gesell
schaft
licher Ent-
wicklungen verhelfen (Neumann 2003, 67).
Auch die in diesem Beitrag behandelten Romane von Maja Haderlap und
Hamid Sadr fungieren als GedÀchtnismedien, die wichtige Diskurse der österrei-
chischen Erinnerungskultur reflektieren. Der Roman Engel des Vergessens (2011)
erzĂ€hlt die aus dem kollektiven GedĂ€chtnis der Ăsterreicher*innen ausgeblen-
dete Geschichte der KĂ€rntner Slowen*innen und ihren Widerstand im Zweiten
Weltkrieg. Haderlap wird damit einer speziell kÀrntner-slowenischen Erinne-
rung gerecht, gleichzeitig hinterfragt sie aber auch vorherrschende Sprechwei-
sen der österreichischen Erinne rungspolitik und Geschichtsschreibung ĂŒber den
KÀrntner Partisanenkampf (vgl. auch Spreicer 2015, 253).1 Ein Àhnliches Ringen
um eine andere Dimension des GedÀchtnisortes des Zweiten Weltkriegs zeich-
net Hamid Sadrs Der GedÀchtnissekretÀr (2005) nach. Aus der Perspektive eines
auĂenstehenden Fremden verfolgt er das Oszillieren zwischen Opfer- und TĂ€ter-
gedĂ€chtnis im österreichischen Kontext und greift das als lĂ€ngst ĂŒberwunden
geglaubte österreichische Opfernarrativ noch einmal kritisch auf. Der Roman
liest sich jedoch nicht als simple Verurteilung der TĂ€tergeneration, er fragt viel-
mehr nach Möglichkeiten alternativen Handelns und nach den Grenzen mensch-
licher SolidaritÀt in einem transkulturellen Kontext, zumal sich hier jemand, der
selbst Rassifizierungen und Ausgrenzung ausgesetzt ist (vgl. auch Mitterbauer
2011, 237), in die Position der TĂ€tergesellschaft hineinversetzt, aber gleichzeitig
den Opfern der NS-Verbrechen eingedenk bleibt.
Beiden Romanen ist gemeinsam, dass ihr*e ErzÀhler*in von den RÀndern
der Gesellschaft sprechen und die ethnisch fixierte IdentitÀts erzÀhlung der
Ăsterreicher*innen selbst in Frage stellen, indem sie âfestgefĂŒgte GedĂ€chtnis-
und Machtformationenâ (Assmann 2013, 144) zu verĂ€ndern trachten. Dabei
fragen sie auch danach, wie die Opfer in einem transkulturellen Kontext mit
1â
An dieser Stelle möchte ich darauf hinweisen, dass unabhÀngig von meinem Beitrag zeitgleich
ein Beitrag von Werner Wintersteiner (2019) zu Maja Haderlaps Roman Engel des Vergessens er-
schienen ist, der den Roman auf eine Àhnliche Weise in der österreichischen Erinnerungspolitik
verortet und behandelt.
Opfernarrative in transnationalen Kontexten
- Titel
- Opfernarrative in transnationalen Kontexten
- Herausgeber
- Eva Binder
- Christof Diem
- Miriam Finkelstein
- Sieglinde Klettenhammer
- Birgit Mertz-Baumgartner
- Marijana MiloĆĄeviÄ
- Verlag
- De Gruyter Open Ltd
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-11-069346-1
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 350
- Schlagwörter
- Opfernarrative, zeitgenössische Literatur, transnationale Erinnerung, TransnationalitÀt
- Kategorie
- LehrbĂŒcher