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Die Geschichte des/der Anderenâ â
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nicht nur marginalisiert und der offiziellen Geschichte des Landes gegenlÀufig
ist, sondern auch eine unbequeme Geschichte darstellt, die ins âKellerabteilâ
eines zur Schau gestellten, prachtvollen âHauses Ăsterreichâ verbannt wird (EV,
186), um dort endgĂŒltig vergessen zu werden. Im transnationalen Kontext wiede-
rum, âaus der slowenischen, zentralen Machtperspektive betrachtetâ, wirken die
KĂ€rntner Partisan*innen âwie Findlinge, die man aus der Revolutionsgeschichte
fallen lieĂâ (EV, 223). So findet ihre Geschichte weder an nationale noch an trans-
nationale Erinnerungskontexte Anbindung.
Dabei ist die Geschichte der Familie der ErzÀhlerin unzertrennbar mit der
âgroĂenâ europĂ€ischen Geschichte, dem historischen Narrativ, verbunden: GroĂ-
vater und Vater waren Partisanen, die GroĂmutter hat das Konzentrationslager
RavensbrĂŒck ĂŒberlebt, drei aus der Wehrmacht desertierte BrĂŒder der Mutter
starben im Kampf auf der Seite der Partisan*innen. Die Geschichte der Familie ist
somit â Ă€hnlich wie andere kĂ€rntner-slowenische Familiengeschichten â zutiefst
gezeichnet von Verlust, Gewalt und Tod, wobei Kriegsereignisse und erlebte
Traumata trans
generationell in GesprÀchen, etwa bei der Verrichtung der Arbeit,
bei familiĂ€ren Zusammentreffen, beim Feiern oder Trauern, mĂŒndlich weiterge-
geben werden.6 So erfÀhrt die junge ErzÀhlerin von Dachau und Mauthausen,
von den Regeln des KZ, vom Verbrechen im PerĆĄmanhof in Bad Eisenkappel und
von den Foltern, die ihr Vater erlitten hat. SpÀter, als junge Erwachsene, verfolgt
sie in Wien die Machtmechanismen öffentlicher Erinnerungsdiskurse, die mar-
ginalisierte Erinnerungsnarrative konsequent aus dem offiziellen GedÀchtnis
ausschlieĂen. Somit entscheidet sie sich, aus den zu BruchstĂŒcken zerfallenen
Geschichten eine zusammenhÀngende ErzÀhlung zu formen (vgl. auch Banoun
2014, 22) â d.h. ihnen eine literarische Form zu geben, die es erlaubt, den gene-
rationellen Rahmen des kommunikativen GedÀchtnisses zu verlassen und die
ErzÀhlungen in das kulturelle GedÀchtnis zu heben.
Das Schreiben hat also zunÀchst eine politische Dimension, indem Haderlap
wichtige öffentliche Diskurse der 1980er Jahre aufgreift, Fragen der Zugehörigkeit
thematisiert und identitÀtspolitische Mechanismen der Grenzziehungen kritisch
reflektiert.
Der Grenze wegen, die in den Augen der Mehrheit in unserem Lande nur eine nationale
und sprachliche Grenze sein kann, muss ich mich erklÀren und ausweisen. Wer ich bin, zu
wem ich gehöre, warum ich Slowenisch schreibe oder Deutsch spreche? Solche Bekennt-
nisse haben einen Schattenhof, in dem Gespenster herumstehen mit den Namen Treue und
6â Zur Funktion der oralen ErzĂ€hltradition in der KĂ€rntner Erinnerungsgemeinschaft und des
kommunikativen GedĂ€chtnisses in Engel des Vergessens siehe auch Wagner 2013, 203â204;
Banoun 2014, 21 und Amann 2013, 97.
Opfernarrative in transnationalen Kontexten
- Titel
- Opfernarrative in transnationalen Kontexten
- Herausgeber
- Eva Binder
- Christof Diem
- Miriam Finkelstein
- Sieglinde Klettenhammer
- Birgit Mertz-Baumgartner
- Marijana MiloĆĄeviÄ
- Verlag
- De Gruyter Open Ltd
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-11-069346-1
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 350
- Schlagwörter
- Opfernarrative, zeitgenössische Literatur, transnationale Erinnerung, TransnationalitÀt
- Kategorie
- LehrbĂŒcher