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Opfernarrative in transnationalen Kontexten
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82    Hajnalka Nagy Nicht zufĂ€llig endet der Roman mit dem Bild der Großmutter, die in „trichterförmige[n] Baldachine[n]“ aus Wolle Stimmen einzufangen versucht (EV, 287). Dieses Bild deutet einige zentrale poetologische Implikationen von Haderlap an. An ihm wird nicht nur die Literatur als aus vielen ErzĂ€hlfĂ€den gesponnene Textur sichtbar; es wird auch deutlich, dass das GedĂ€chtnis selbst vielstimmig ist.9 Die scheinbar in der Luft freischwebenden Stimmen sind die Stimmen all jener, deren Leidensgeschichte der Roman in sich integriert, ohne sie zum stummen ErzĂ€hlgegenstand zu machen. Die zentrale Setzung der Figur der Großmutter beschwört die ursprĂŒngliche Situation des GeschichtenerzĂ€hlens herauf und lĂ€sst dessen fundamentale Funktion fĂŒr die Erinnerungs- und Iden- titĂ€tskonstruktion offensichtlich werden. Somit ist sowohl Erinnerung wie auch das damit transportierte IdentitĂ€tsnarrativ ein vermitteltes und vielfach perspek- tiviertes. Die Geschichten sind aber auch auf eine ErzĂ€hlinstanz angewiesen, die vom Standpunkt ihrer jeweiligen Gegenwart aus die disparaten FĂ€den einzusam- meln, die darin artikulierenden ErzĂ€hlstimmen wahrzunehmen und sie anzu- nehmen vermag. In diesem Sinne endet der Roman mit der folgenden Erkenntnis: Der Engel des Vergessens dĂŒrfte vergessen haben, die Spuren der Vergangenheit aus meinem GedĂ€chtnis zu tilgen. Er hat mich durch ein Meer gefĂŒhrt, in dem Überreste und BruchstĂŒcke schwammen. Er hat meine SĂ€tze auf dahintreibende TrĂŒmmer und Scher- ben prallen lassen, damit sie sich verletzen, damit sie sich schĂ€rfen. Er hat die Engelbild- chen ĂŒber meinem Kinderbett endgĂŒltig entfernt. Ich werde diesen Engel nicht zu Gesicht bekommen. Er wird keine Gestalt haben. Er wird in den BĂŒchern verschwinden. Er wird eine ErzĂ€hlung sein. (EV, 286–287) Diese Poetologie kehrt die Benjamin’sche Denkfigur des Engels der Geschichte ins Aktive.10 Die vom Engel des Vergessens gefĂŒhrte ErzĂ€hlerin kann nicht mehr tatenlos zuschauen, dem Fortschritt scheinbar ohnmĂ€chtig ausgesetzt. Sie muss die BruchstĂŒcke zusammenfĂŒgen und in eine erzĂ€hlbare und fĂŒr alle sicht- und lesbare Geschichte verwandeln. Die ErzĂ€hlung hat nicht nur das Ziel, eine kol- lektive Gewalterfahrung zu ĂŒberwinden, indem die vielen Geschichten im Akt des ErzĂ€hlens wiederholt und in einen grĂ¶ĂŸeren ErzĂ€hl zusammenhang gebracht werden. Die vielen Geschlagenen, GedemĂŒtigten und Ermordeten werden auch verbunden. Diese gemeinsame Leiderfahrung ist auch die Grundlage einer transnationalen Erin- nerung: „Ich will mir vorstellen, dass die Lagerfrauen mehr Verbindendes anfĂŒhren könnten, als nationale Geschichtsschreibungen je zu formulieren und zu denken wagen.“ (EV, 285) 9  Čeh Steger (2014, 341) und Wagner (2013, 203–204) weisen darauf hin, dass die ErzĂ€hlungen und Texte von Maja Haderlaps Verwandten wie die des Onkels Anton Haderlap, der Großtante Helena Kuchar und ihres Vaters Zdravko Eingang in den Romantext gefunden haben. 10  Vgl. die Analyse der Engel-Figuren im Roman bei Wagner 2013.
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Opfernarrative in transnationalen Kontexten
Titel
Opfernarrative in transnationalen Kontexten
Herausgeber
Eva Binder
Christof Diem
Miriam Finkelstein
Sieglinde Klettenhammer
Birgit Mertz-Baumgartner
Marijana Miloơević
Verlag
De Gruyter Open Ltd
Datum
2020
Sprache
deutsch
Lizenz
CC BY 4.0
ISBN
978-3-11-069346-1
Abmessungen
15.5 x 23.0 cm
Seiten
350
Schlagwörter
Opfernarrative, zeitgenössische Literatur, transnationale Erinnerung, TransnationalitÀt
Kategorie
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