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Opfernarrative in transnationalen Kontexten
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84    Hajnalka Nagy Sadrs Buch jedoch gering, wiewohl er eine besondere, „verschobene“ Perspektive auf Österreichs Vergangenheit (Vlasta 2016, 205) und das Täter-Opfer-Gedächtnis erlaubt. Im Mittelpunkt des Romans steht Ardi, ein persischer Student, der, um Studium und Aufenthalt in Wien zu finanzieren, beim alten Herrn Sohalt, einem ehemaligen Nazi-Mitläufer, zu arbeiten beginnt. Seine Aufgabe ist es, mit Hilfe von Sohalts fünf „Oktavenheften“ Gebäude und Straßen von heute mit Foto- grafien aus dem Zweiten Weltkrieg zu vergleichen. Das Ziel der Dokumenta- tionsarbeit des alten Herrn ist es, ein Buch mit ausgewählten Bildern über die zerbombte Stadt als „ein besonderes Andenken an Wien“ (GS, 16) herauszuge- ben – ein Gedenkbuch also, das Sohalt ermöglicht, Wien zum Opfer der Kriegs- zerstörung zu stilisieren und dadurch seine eigene Täterschaft auszublenden. Unterschiedlicher könnten die Positionen der beiden Hauptfiguren nicht sein. Während Ardi von Anfang an am menschlichen Leid interessiert ist, registriert Herr Sohalts gleichgültiger Blick nur das Leblose zerstörter Gebäude und Straßen (vgl. auch Grabovszki 2009, 285; Vlasta 2016, 207). So legt sich auf das Bild über die unversehrte, vollkommen „renoviert[e] und saniert[e]“ (GS, 18) Stadt Wien im Kopf von Ardi allmählich das Bild einer unerträglichen Totenstadt, um auf diese Weise ein Palimpsest zu bilden, in dem Vergangenheit und Gegenwart, Krieg und Frieden ununterscheidbar werden. Das seltsame ‚Ineinanderrutschen‘ der Zeiten geschieht plötzlich, ohne dass Ardi irgendeinen Einfluss darauf hätte (dazu vgl. Dabrowska 2012, 186–187): Ich glaube, zwischen Schulhof und Tankstelle holte mich die Vergangenheit ein. Das Sich- in-der-Zeit-glauben begann dort. Durch die staubige Luft wollte ich blind über die Straße laufen, als irgendwo ein offen gebliebener Fensterflügel zusammenschlug. […] Vom Flieger- alarm gehetzt überquerten wir die Straße und rannten immer den weißen, in Leuchtfarbe gezeichneten Pfeilen nach, die uns dick auf die Hausmauern aufgetragen zum Luftschutz- keller führen sollten. (GS, 53) Auf diese Weise wird die Hauptfigur in eine vergangene Realität eines anderen, ihm fremden Gedächtnisses derart hineingezogen, dass ihm seine eigene Identi- tät, Sprache und Geschichte abhandenkommen (Grabovszki 2009, 258). Was als simple Arbeit als Kundschafter begann, wird für Ardi nach und nach zu einer existentiellen Aufgabe doppelter Zeugenschaft, die das Tätergedächtnis zu rekonstruieren und die aus ebendiesem Gedächtnis getilgten Erinnerungen an die (jüdischen) Opfer wieder sichtbar zu machen trachtet, selbst dann, wenn er selbst dabei zugrunde geht. Das Aufdecken der Lügen und Fälschungen Herrn Sohalts, der durch die Unkenntlichmachung bestimmter Textstellen in seinen Oktavenheften und durch das Aussortieren nicht geeigneter Fotos die Spuren von Verbrechen ver-
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Opfernarrative in transnationalen Kontexten
Titel
Opfernarrative in transnationalen Kontexten
Herausgeber
Eva Binder
Christof Diem
Miriam Finkelstein
Sieglinde Klettenhammer
Birgit Mertz-Baumgartner
Marijana Milošević
Verlag
De Gruyter Open Ltd
Datum
2020
Sprache
deutsch
Lizenz
CC BY 4.0
ISBN
978-3-11-069346-1
Abmessungen
15.5 x 23.0 cm
Seiten
350
Schlagwörter
Opfernarrative, zeitgenössische Literatur, transnationale Erinnerung, Transnationalität
Kategorie
Lehrbücher
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