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Opfernarrative in transnationalen Kontexten
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86    Hajnalka Nagy entfernte Orte und Zeiten miteinander verbinden, fungieren auf diese Weise als Zeitzeugen: Über die Steinbrüche Wiener Graben [in Mauthausen] und Bettelberg, die vor dem Krieg als Herstellungsort der Pflastersteine für Wien bekannt wurden, weiß ich nicht genug, es gab und gibt Gerüchte, flüsterleise Pflastergerüchte. (GS, 91) Die Überblendung von Räumen und Zeiten signalisiert zugleich die Wiederkehr des Traumatischen in einem Differenzmoment: Ardi erlebt zwar im Akt des Hin- einrutschens in die Vergangenheit die Bombardierungen mit und ist Augenzeuge von Folterungen und Ermordungen, die Ereignisse sind aber nur Produkte (s)eines Erinnerungs- und Vergegenwärtigungsprozesses, der in dieser Wiederholung die unauflösbare Diskrepanz von Damals und Heute und die Unwiederbringlichkeit der Toten offensichtlich werden lässt. Das Verwischen der Realitäten erreicht seinen Höhepunkt, als Ardi überlegt, wie er neun jüdische Männer, die sich im Keller des Hauses in der Förstergasse 2 verstecken, vor Denunziation und Ermor- dung retten könnte. Die Unmög lichkeit der Rückkehr in diese vergangene Welt verbietet ihm ein physisches Eingreifen. Erst die Umschreibung der Geschichte Sohalts ermöglicht ihm, an der Konstruktion und Dekonstruktion des kollektiven Gedächtnisses aktiv teilzuhaben. In halluzinatorischen Zuständen rekonstruiert Ardi schließlich anhand von Sohalts Notizfragmenten und Bildern16 sowie entlang seiner eigenen phantasier- ten Erlebnisse die letzten Kriegstage und entscheidet sich, einen neuen, kohä- renten Erinnerungstext zu schreiben, der die Täter*innen zwingt, ihre Vergan- genheitsversion zu revidieren, „und zwar dort, wo sie wegen der Lächerlichkeit (oder Schändlichkeit) der Tatsachen in Gedächtnislücken verschwunden war“ (GS, 172). Daneben entsteht auch ein neuer Bildband, der Ardis Sicht auf die NS-Zeit wiedergibt, die zwar das Bild der Österrei cher*innen zu korrigieren, aber keineswegs die Traumata zu überwinden vermag. Das „Nichtvergessenkönnen“ (Mitterbauer 2011, 239) treibt den Studenten schließlich in den Wahnsinn, so dass er sich in die psychiatrische Anstalt von Steinhof begibt. Hier beginnt er in Rück- blenden die Geschichte seiner psychischen Erkrankung aufzuschreiben. Das ist der erzählerische Rahmen, in dem die Sohalt-Geschichte eingebettet ist und der die zeitliche Distanz zum Geschehen signalisiert. Eine Distanz, die das Nieder- schreiben der Geschichte erst erlaubt. 16  In diesem Sinne haben Sohalts Aufzeichnungen und Fotos eine ambivalente Funktion: Sie versuchen einerseits eine grausame Vergangenheit zu verdecken, andererseits aber ermöglichen sie Ardi, diese Vergangenheit überhaupt wahrzunehmen.
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Opfernarrative in transnationalen Kontexten
Titel
Opfernarrative in transnationalen Kontexten
Herausgeber
Eva Binder
Christof Diem
Miriam Finkelstein
Sieglinde Klettenhammer
Birgit Mertz-Baumgartner
Marijana Milošević
Verlag
De Gruyter Open Ltd
Datum
2020
Sprache
deutsch
Lizenz
CC BY 4.0
ISBN
978-3-11-069346-1
Abmessungen
15.5 x 23.0 cm
Seiten
350
Schlagwörter
Opfernarrative, zeitgenössische Literatur, transnationale Erinnerung, Transnationalität
Kategorie
Lehrbücher
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