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96 Anna Brod
Wunsch nach gesellschaftlicher Anerkennung als Opfer und der Überwindung
eines passiven Opferstatus hin, die sie an Äußerungen zweier Töchter vom NSU
ermordeter Männer festmacht (2014a, 18–21).
Semiya Şimşek, Tochter des ersten Opfers des NSU, Enver Şimşek, betonte
in ihrer Rede bei der Gedenkveranstaltung der Bundesregierung am 23. Februar
2012, dass ihre Familie elf Jahre lang „nicht einmal reinen Gewissens Opfer sein“
(2012) durfte und weist damit auf den von Ermittlungsbehörden und Medien
langgehegten Verdacht hin, dass Familienmitglieder in den Mord verwickelt
seien. Nach der Identifikation der Mitglieder des NSU als Täter*innen sei es
eine große Erleichterung gewesen, auch öffentlich als Opfer wahrgenommen zu
werden, so Şimşek (John 2014a, 18). Damit nimmt Şimşek auf das konnotative
Verhältnis der Lexeme ‚Opfer‘ und ‚Unschuld‘ (Giglioli 2015, 9) Bezug, das eine
Anerkennung als Opfer für die Angehörigen der vom NSU Ermordeten beson-
ders erstrebenswert macht, weil sie lange Zeit als potenzielle Täter*innen und
(Mit)Schuldige wahrgenommen worden waren. Als Opfer anerkannt zu werden
und eine entsprechende gesellschaftliche Position zugewiesen zu bekommen,
ist für sie und andere Hinterbliebene auch mit der Hoffnung verbunden, dass
der Tod der Väter und dessen Folgen für die Angehörigen für das mehrheits-
gesellschaftliche ‚Wir‘ betrauerbar werden, wie Gabriele Fischer mit Bezug auf
Judith Butler festhält (2018, 124).
In Abgrenzung zu Şimşek beschreibt Gamze Kubaşık, Tochter des in Dort-
mund getöteten Mehmet Kubaşık, mehr als zwei Jahre später in ihrem Beitrag für
den von John herausgegebenen Sammelband ihren Wunsch, sich von der Opfer-
rolle zu lösen und endlich auch andere Facetten ihrer Identität leben zu können:
„Ich will nicht ewig Opfer sein!“ (2014b, 121). Sie verweist so auf die mit dem
Begriff des ‚Opfers‘ verbundene Vorstellung von Passivität, die sie überwinden
möchte, um stattdessen als Akteurin wahrgenommen zu werden.
Die beiden so unterschiedlichen Stellungnahmen Şimşeks und Kubaşıks
stehen nicht nur für die individuellen Erfahrungen zweier Hinterbliebener von
NSU-Opfern, sondern zeigen exemplarisch das Spannungsfeld auf, das mit dem
Begriff des ‚Opfers‘ verbunden ist: Auch wenn sich ein Opfer nicht dadurch aus-
zeichnet, etwas getan zu haben, sondern vielmehr dadurch, dass ihm etwas
angetan wurde (Giglioli 2015, 9), kann aus dieser vermeintlichen Position von
Ohnmacht auch Macht erwachsen. So weist etwa Michel Wieviorka darauf hin,
dass Opfer zunehmend nicht mehr nur über das von ihnen Erlittene definiert,
sondern auch als aktiv Handelnde verstanden werden, die Rechenschaft und
Wiedergutmachung einfordern (2006, 91). Geschieht dies nicht, weil Opfern diese
Form der Handlungsmacht aberkannt wird, kann von einer von der Gesellschaft
ausgehenden sekundären Viktimisierung gesprochen werden (Wieviorka 2006,
94). Wenn sie jedoch über das von ihnen Erlebte und Erlittene sprechen, kann
Opfernarrative in transnationalen Kontexten
- Titel
- Opfernarrative in transnationalen Kontexten
- Herausgeber
- Eva Binder
- Christof Diem
- Miriam Finkelstein
- Sieglinde Klettenhammer
- Birgit Mertz-Baumgartner
- Marijana Milošević
- Verlag
- De Gruyter Open Ltd
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-11-069346-1
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 350
- Schlagwörter
- Opfernarrative, zeitgenössische Literatur, transnationale Erinnerung, Transnationalität
- Kategorie
- Lehrbücher