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Anna Brod
gezeigt: Zwei Schauspieler und eine Schauspielerin ohne Migrationshintergrund,
die auf der Bühne ihre eigenen Vornamen Simon, Thomas und Annika tragen,
treffen auf Ismet, Kutlu und Ayfer, die zum Zeitpunkt des Anschlags in der Keup-
straße wohnten und/oder arbeiteten und – wie der Großteil der Anwohner*innen
und Geschäftsinhaber*innen dort – türkeistämmig sind. Die Konstellationen von
jeweils zwei Männern und einer Frau sowohl bei den Schauspieler*innen als
auch bei den Vertreter*innen der Keupstraße spiegeln sich in der Inszenierung
gegenseitig. Besonders offensichtlich wird dies in den Eingangs- und Schluss-
szenen, wenn die beiden Grüppchen in jeweils einem der beiden drehbaren
weißen Guckkästen mit zwei offenen Seiten sitzen, die voneinander durch die
titelgebende Lücke getrennt sind. So wird deutlich: In der Inszenierung wie in der
Gesellschaft sind diese Gruppen konstruiert – scheinbar trennenden Unterschie-
den stehen Gemeinsamkeiten gegenüber, die nach und nach entdeckt werden
müssen. Gleichzeitig verweist die Konstellation auch auf das in den Gesprächen
abwesende Täter-Trio Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt.
Das Material, das die Begegnung der beiden Gruppen dokumentiert, wurde
für den Theatertext so angeordnet, dass eine dreistufige Entwicklung im Umgang
mit Betroffenen des Anschlags in der Keupstraße impliziert wird.
3.2.1 Stufe 1: Aneignende Stellvertretung und Viktimisierung
Zu Beginn der Inszenierung tauschen sich die drei professionellen Schau
spie-
ler*innen untereinander über die Konzeption der Aufführung aus, ohne Ismet,
Kutlu und Ayfer einzubinden. Thomas und Annika führen dabei vor, wie Betrof-
fene durch andere (unfreiwillig) erneut zu Opfern gemacht werden können,
indem über sie statt mit ihnen gesprochen wird (Wieviorka 2006, 94).
So formuliert Thomas zunächst die Vorstellung, Betroffene trügen über ihre
Körper eine Spur zu dem Verbrechen, dessen Opfer sie geworden sind.5 Er geht auf
den Friseur ein, vor dessen Laden die Bombe in der Keupstraße detonierte, und
entwickelt aus dessen imaginierter Perspektive heraus eine Position, in der er kör-
perliche und materielle Spuren des Anschlags miteinander in Beziehung setzt:
THOMAS
[…]
Da ist zum Beispiel der Frisör, der die Nägel noch in der Wand hat, weil er der Geschichte
nicht traut
…– weil er nicht will, dass seine Geschichte überschrieben wird. Weil er nicht will,
dass das vergessen wird [sic] was ihm da passiert ist. Diese Nägel in den Wänden sind wie
5
Vgl. dazu Schmidt 2015, 49.
Opfernarrative in transnationalen Kontexten
- Titel
- Opfernarrative in transnationalen Kontexten
- Herausgeber
- Eva Binder
- Christof Diem
- Miriam Finkelstein
- Sieglinde Klettenhammer
- Birgit Mertz-Baumgartner
- Marijana Milošević
- Verlag
- De Gruyter Open Ltd
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-11-069346-1
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 350
- Schlagwörter
- Opfernarrative, zeitgenössische Literatur, transnationale Erinnerung, Transnationalität
- Kategorie
- Lehrbücher