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Opfernarrative in transnationalen Kontexten
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108    Anna Brod Position der Stellvertretung ein, da sie trotz der Anwesenheit Ayfers von deren körperlichem Erleben berichtet, während Thomas die Position eines Abwesen- den vertritt. Ayfer selbst erhält von Annika nur die Möglichkeit, einen einzigen knappen Satz zu äußern. Annikas theoretische Position, die Anwohner*innen auf der Bühne nicht nur als Opfer und Betroffene wahrzunehmen, sondern als mehrdimensionale Personen, steht somit im Widerspruch zur Form, in der sie diese Position vertritt: Indem sie anstelle von Ayfer spricht, macht sie diese zum Objekt der Auseinandersetzung, ohne ihr die Möglichkeit zu geben, ihre Subjekt- position zu behaupten. An dieser Passage im Theatertext wird also eine unbeab- sichtigte Form von (sekundärer) Viktimisierung durch Sprache vorgeführt (Wie- viorka 2006, 94). Wenn Annika Formulierungen mit ‚du‘ wählt, sich also an Ayfer selbst statt an weitere Anwesende zu richten scheint, vermag das nur oberfläch- lich die Tatsache zu verschleiern, dass hier kein tatsächlicher Kontakt zwischen den Schauspieler*innen und den Vertreter*innen der Keupstraße auf der Bühne zustande kommt. Durch inszenatorische Mittel wird das Thema des nur scheinbaren Kontakts auf die Ebene der Darstellung übertragen: Zwischen zwei drehbaren weißen Kuben mit zwei offenen Seiten ist die titelgebende Lücke durchgängig auf der Bühne präsent. Zu Beginn der Inszenierung befinden sich die drei Schauspieler*innen im linken und die drei Vertreter*innen der Keupstraße im rechten Kubus und schauen sich minutenlang stumm über die Lücke hinweg an. Wenn das Bild der im einen Kubus sitzenden Kutlu, Ismet und Ayfer über eine Live-Cam in Lebens- größe an die Wand des anderen Kubus projiziert wird, erscheint es so, als ob diese dort auch anwesend seien. Während Thomas am Bühnenrand sitzend die Überlegung äußert, dass wir „uns erst einmal richtig begegnen [müssten], um uns überhaupt aushalten zu können“ (Calis 2014a, 17), setzt sich Annika neben die Projektion von Ayfer auf die Bank und schaut deren Bild an. Ihre Interaktion mit dem projizierten Bild Ayfers versinnbildlicht die Problematik der nur in Form von Projektionen – im Sinne von Vorstellungen – stattfindenden Begegnungen zwischen den beiden in der Inszenierung dargestellten Gruppen. In der Inszenie- rung wird der aus dem Reenactment der Begegnung von Schauspieler*innen und Vertreter*innen der Keupstraße hervorgehende komplexe Wirklichkeitsbezug (Dreysse und Malzacher 2007, 10–11; Fischer-Lichte 2012, 13) so um eine weitere mögliche Bedeutungsebene ergänzt. 3.2.2 Stufe 2: Videografierte Opferzeugenschaft Ein Schritt weg von dieser passiven Position Richtung Handlungsmacht (Wievi- orka 2006, 94) wird in der Inszenierung von Die Lücke dargestellt, wenn im wei-
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Opfernarrative in transnationalen Kontexten
Titel
Opfernarrative in transnationalen Kontexten
Herausgeber
Eva Binder
Christof Diem
Miriam Finkelstein
Sieglinde Klettenhammer
Birgit Mertz-Baumgartner
Marijana Milošević
Verlag
De Gruyter Open Ltd
Datum
2020
Sprache
deutsch
Lizenz
CC BY 4.0
ISBN
978-3-11-069346-1
Abmessungen
15.5 x 23.0 cm
Seiten
350
Schlagwörter
Opfernarrative, zeitgenössische Literatur, transnationale Erinnerung, Transnationalität
Kategorie
Lehrbücher
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