Seite - 9 - in Land der Verheißung – Ort der Zuflucht - Jüdische Emigration und nationalsozialistische Vertreibung aus Österreich nach Palästina 1920 bis 1945
Bild der Seite - 9 -
Text der Seite - 9 -
9
Einleitung
„Die Pioniere genossen, so schien es, in jenen Tagen das höchste Ansehen.
Doch sie lebten weit weg von Jerusalem, in den fruchtbaren Tälern, in Ga-
liläa, in der Ödnis am Ufer des Toten Meeres. Ihre kräftigen und gedan-
kenschweren Gestalten zwischen Traktor und gepflügter Scholle sahen und
bewunderten wir auf den Plakaten des Jüdischen Nationalfonds.
Eine Stufe unter den Pionieren rangierte der so genannte organisierte
Jischuw: diejenigen der jüdischen Bevölkerung des Landes, die im Trä-
gerhemd auf dem sommerlichen Balkon den Davar lasen, die Zeitung der
Arbeitergewerkschaft Histadrut, die Mitglieder der Histadrut und der Ge-
werkschaftskrankenkasse, die Aktivisten der Untergrundarmee Hagana, die
Leute in Khaki, die Salat-, Spiegelei- und Dickmilchesser, die Befürworter
einer Politik der Zurückhaltung, von Eigenverantwortung, solidem Lebens-
wandel, Abgaben für den Aufbaufonds, heimischen Produkten, Arbeiter-
klasse, Parteidisziplin und milden Oliven in den Gläsern von Tnuva1. ‚Von
drunten blau, von droben blau, wir bauen uns einen Hafen! Eine Heimat,
einen Hafen!‘
Diesem organisierten Jischuw entgegen standen die Terroristen der Un-
tergrundgruppen wie auch die Ultraorthodoxen von Mea Schearim2 und die
orthodoxen Kommunisten, die ‚Zionshasser‘, und ein ganzes Sammelsurium
von Intelligenzlern, Karrieristen und egozentrischen Möchtegernkünstlern
des kosmopolitisch-dekadenten Typs, allerlei Außenseiter und Individualis-
ten und dubiose Nihilisten, Jeckes mit ihrem unheilbaren deutsch-jüdischen
Gebaren, anglophile Snobs, reiche französisierte Orientalen, die sich in un-
seren Augen wie hochnäsige Butler gerierten, dazu Jemeniten und Georgier
und Maghrebiner und Kurden und Thessaloniker
– alle eindeutig unsere Brü-
der, alle eindeutig vielversprechendes Menschenmaterial, aber was kann man
machen, man wird noch viel Mühe und Geduld in sie investieren müssen.
Daneben gab es noch die Flüchtlinge und die Überlebenden, denen wir
im Allgemeinen mit Mitleid und auch ein wenig Abscheu begegneten: arm-
selige Elendsgestalten
– und ist es denn unsere Schuld, dass sie dort bleiben
und auf Hitler warten mussten, statt noch rechtzeitig herzukommen? Und
warum haben sie sich wie Lämmer zur Schlachtbank führen lassen, statt
sich zu organisieren und Widerstand zu leisten? Und sie sollen auch endlich
damit aufhören, ihr nebbiches Jiddisch zu reden und uns all das zu erzählen,
was man ihnen dort angetan hat, denn das, was man ihnen dort angetan hat,
1 Tnuva ist ein 1926 gegründetes israelisches Agrarunternehmen, spezialisiert auf die Erzeugung von
Milchprodukten.
2 Mea Schearim (hebr.: hundertfach) ist eines der ältesten Stadtviertel Jerusalems und wird überwie-
gend von ultraorthodoxen Jüdinnen und Juden bewohnt.
Land der Verheißung – Ort der Zuflucht
Jüdische Emigration und nationalsozialistische Vertreibung aus Österreich nach Palästina 1920 bis 1945
- Titel
- Land der Verheißung – Ort der Zuflucht
- Untertitel
- Jüdische Emigration und nationalsozialistische Vertreibung aus Österreich nach Palästina 1920 bis 1945
- Autor
- Victoria Kumar
- Verlag
- Studienverlag Ges.m.b.H.
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-7065-5419-0
- Abmessungen
- 15.6 x 23.4 cm
- Seiten
- 216
- Schlagwörter
- Palestine/Israel, Aliyah/Zionism, Jewish history of Austria, National Socialism in Austria, Palästina/Israel, Alijah/Zionismus, Jüdische Geschichte Österreichs, Nationalsozialismus in Österreich
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918