Seite - 77 - in Land der Verheißung – Ort der Zuflucht - Jüdische Emigration und nationalsozialistische Vertreibung aus Österreich nach Palästina 1920 bis 1945
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österreichischen zionistischen Organisationen länderübergreifend aktiv war, die
Situation in Österreich von jenen anderer Länder unterschieden.191
Unterbrochen durch den Ersten Weltkrieg erfuhr das Vereinsleben zu Beginn
der 1920er Jahre eine Reaktivierung, gleichsam entstanden neue Vereinigungen
und politische Gruppierungen unterschiedlicher Ausrichtung. Mit dem Ziel, den
Status einer eigenen Nation innerhalb eines Bundesstaates Österreichs zu errei-
chen, trat im Oktober 1918 eine zionistische „Reichskonferenz“ zusammen, die die
Gründung eines „Jüdischen Nationalrates“ beschloss, der sich am 4.
November als
„Jüdischer Nationalrat für Deutschösterreich“ konstituierte. Die wichtigsten Ziele
des aus 52 Mitgliedern bestehenden Rates waren die Anerkennung der Jüdinnen
und Juden als Nation, Gleichberechtigung und weitgehende Selbstverwaltung, sowie
die Vertretung in den repräsentativen Körperschaften. Bedeutung kam dem „Jüdi-
schen Nationalrat“, zu dessen Kompetenzen das Erteilen von rechtlichen und wirt-
schaftlichen Auskünften und die Organisation der Hachscharah gehörten, vor allem
durch die Errichtung des „Chajes“-Realgymnasiums zu. 1919 auf Betreiben des
Oberrabbiners Zwi Perez Chajes (1876–1927) gegründet, definierte sich das private,
koedukativ geführte Gymnasium als „jüdischnational“ und legte den Schwerpunkt
des Lehrplans gemäß seinem auf die Alijah ausgerichteten Grundkonzept auf jüdi-
sche Geschichte und Literatur, Palästinakunde, Hebräisch, aber auch Englisch und
Latein.192 Die rund 1.500 Schülerinnen und Schüler, die die Institution bis zu ihrer
Zwangsauflösung im Jahr 1939 besuchten, stammten mehrheitlich aus zugewan-
derten „ostjüdischen“ Familien, wohingegen das Gros der Wiener „assimilierten“
jüdischen Familien ihre Kinder in andere Schulen schickte. Trotz aller (theoreti-
scher) Vorbereitung auf die Auswanderung nach Palästina sind vor 1938 tatsäch-
lich nur sehr wenige Absolventinnen und Absolventen des „Chajes“-Gymnasiums
emigriert.193
Formale Schwierigkeiten bereiteten den Aktivitäten des „Jüdischen Nationalra-
tes“ 1920 ein Ende, der Großteil seiner Aufgaben wurde vom „Zionistischen Lan-
desverband“ übernommen. Dem Landesverband unterstanden die Bezirksgruppen
in Wien und die Ortsgruppen in der Provinz, daneben existierten mehrere Son-
derverbände mit unterschiedlichen Zielen und Tätigkeiten (z. B. Studenten- und
Sportvereine). Die laufenden Geschäfte und die Verwaltung wurden vom Landesko-
mitee übernommen. Während sich der „Zionistische Landesverband“ bis Ende der
1920er Jahre als Dachorganisation aller österreichischer Zionistinnen und Zionisten
191 Anderl, Generationenkonflikte, S. 79.
192 „Versteckter und offener Antisemitismus, die allgemeine und die besondere jüdische Wirtschafts-
krise, das ständige Nachlassen der religiösen Bindungen und die damit verbundene, uneingestan-
dene seelische Leere, der wachsende Einfluss des Marxismus, der als einzige geistige Strömung ein
erstrebenswertes Ideal, in den Augen vieler eine Illusion, präsentierte, das war der Hintergrund
für den Versuch, eine jüdisch-nationale, humanistisch und kulturell aufgeschlossene Schule zu
errichten.“ Binyamin Shimron, Das Chajesrealgymnasium in Wien 1919–1938. Anlässlich des 70.
Jahrestages der Gründung und des 50. Jahrestags der Auflösung. Herausgegeben von einer Gruppe
ehemaliger Schüler, Tel Aviv 1989, S. 4.
193 Anderl, Generationenkonflikte, S. 84f; Weinzierl, Judentum, S. 35f; Budischowsky, Jüdisch-politi-
sche Organisationen, S. 131–144.
Land der Verheißung – Ort der Zuflucht
Jüdische Emigration und nationalsozialistische Vertreibung aus Österreich nach Palästina 1920 bis 1945
- Titel
- Land der Verheißung – Ort der Zuflucht
- Untertitel
- Jüdische Emigration und nationalsozialistische Vertreibung aus Österreich nach Palästina 1920 bis 1945
- Autor
- Victoria Kumar
- Verlag
- Studienverlag Ges.m.b.H.
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-7065-5419-0
- Abmessungen
- 15.6 x 23.4 cm
- Seiten
- 216
- Schlagwörter
- Palestine/Israel, Aliyah/Zionism, Jewish history of Austria, National Socialism in Austria, Palästina/Israel, Alijah/Zionismus, Jüdische Geschichte Österreichs, Nationalsozialismus in Österreich
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918