Seite - 110 - in Land der Verheißung – Ort der Zuflucht - Jüdische Emigration und nationalsozialistische Vertreibung aus Österreich nach Palästina 1920 bis 1945
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Die Abwehrhaltung des österreichischen Ständestaates gegenüber den National-
sozialisten wirkte sich auf die Stellung der jüdischen Bevölkerung im Prinzip positiv
aus. Verglichen mit der Situation in Deutschland wurde Österreich als „kleineres
Übel“ betrachtet, das allein wegen der Abgrenzung zum nationalsozialistischen
Gegner unterstützungswürdig war. Dennoch konnte man sich als Jüdin und Jude
mit diesem Übel nicht leicht identifizieren: Als Hauptgründe führt Pelinka an, dass
die Mehrheit der österreichischen Jüdinnen und Juden politisch seit jeher mit der
Linken sympathisierte, dass ihre politische Basis generell auf schwachem Gerüst
stand und sich die relativ sichere Position aufgrund der Vorgänge im Nachbarland
und der Aktivitäten der illegalen österreichischen NSDAP rasch ändern konnte.289
Trotz aller faschistischen Tendenzen bedeutete das ständestaatliche Regime jedoch
keine massiven Verschlechterungen der Lebensbedingungen, wie es seit 1933 für
die deutsche jüdische Bevölkerung der Fall war. Flüchteten Jüdinnen und Juden vor
1938 aus Österreich, so geschah dies in erster Linie aus politischen Gründen; für
die als Sozialdemokraten und Kommunisten Verfolgten kam als Emigrationsland
demnach auch nicht zwingend Palästina, sondern beispielsweise die Tschechoslo-
wakei oder Spanien in Frage. Im Hinblick auf den zwar nicht regierungsoffiziellen,
aber latent vorhandenen Antisemitismus und die nationalsozialistische Bedrohung
innerhalb und außerhalb der österreichischen Staatsgrenzen, kann die österreichi-
sche Alijah vor 1938 zusammenfassend durchaus als „präventive Flucht“ (Pelinka)
charakterisiert werden.
Wie die von Weinzierl und Kulka durchgeführte Befragung von Auswanderinnen
und Auswanderern ergeben hat, bildete auch die ökonomisch schwierige Situation
in Österreich (und in anderen europäischen Ländern) in vielen Fällen den Anlass
zur Emigration nach Palästina.290 Dass Jüdinnen und Juden jeglicher Profession
besonders stark von der wachsenden Arbeitslosigkeit betroffen waren, wird auch an
der Statistik der Fürsorgeleistungen der Wiener Kultusgemeinde deutlich, wonach
die Zahl der bedürftigen Personen zwischen 1932 und 1936 von 44.000 auf 60.000
gestiegen war. Hinzu kam eine Vielzahl an deutschen Flüchtlingen und Durchwan-
derinnen und Durchwanderern, die die karitative Einrichtung ebenfalls aufsuchte.291
Trotz aller Repressionen, die vom ständestaatlichen Regime ausgingen, trotz
ökonomischer Schwierigkeiten und zunehmender Antisemitismuserfahrungen ver-
fügte die jüdische Bevölkerung Österreichs in den Jahren vor 1938 zumindest über
ein gewisses Maß an Entscheidungsfreiheit, was die Auswanderung – unabhängig
in welches Land – betraf. Die Freiheit und das Recht, auch nur über irgendeinen
Lebensbereich selbst zu bestimmen, wurden den österreichischen Jüdinnen und
Juden mit einem Male genommen, als sich die Katastrophe des Nationalsozialismus
im März 1938 auch über Österreich wölbte.
289 Pelinka, Emigration, S. 14.
290 Haerpfer, Analyse, S. 465.
291 Anderl, Generationenkonflikte, S. 92.
Land der Verheißung – Ort der Zuflucht
Jüdische Emigration und nationalsozialistische Vertreibung aus Österreich nach Palästina 1920 bis 1945
- Titel
- Land der Verheißung – Ort der Zuflucht
- Untertitel
- Jüdische Emigration und nationalsozialistische Vertreibung aus Österreich nach Palästina 1920 bis 1945
- Autor
- Victoria Kumar
- Verlag
- Studienverlag Ges.m.b.H.
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-7065-5419-0
- Abmessungen
- 15.6 x 23.4 cm
- Seiten
- 216
- Schlagwörter
- Palestine/Israel, Aliyah/Zionism, Jewish history of Austria, National Socialism in Austria, Palästina/Israel, Alijah/Zionismus, Jüdische Geschichte Österreichs, Nationalsozialismus in Österreich
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918