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Besieger — die große Nation! — Nach Osten und Westen, Süden und
Norden wurden sie getrieben, meist wieder vertrieben, ein Spielball der
Raub-und Habsucht, dem Glaube nur als Deckmantel der Unmensch-
lichkeit galt, fanden sie oft bei Barbaren mildere Aufnahme als bey Völ-
kern auf viel höherer Stufe der Gesittung. Einen der stärksten Beweise
hiezu liefert die Geschichte der I. in Polen, wo noch heut zu Tage die
Summe der Bekenner mosaischer Confession am zahlreichsten in Europa
seyn dürfte. Polen hatte sich kaum ein Jahrhundert der Nacht des Hei-
denthumes entwunden, und befand sich noch im Zustande tiefster Rohheit,
als die ersten I. aus Deutschland da ankamen. Entfernt von der Mili-
tärstraße nach Palästina, fanden sie hier im rauhen Norden, wo des Ein-
siedlers Peter feurige Beredsamkeit das Volk noch nicht entzündet hatte,
eine friedliche- Zufluchtsstätte. Ihre Einwanderung geschah 1097 (Na-
rus26wit2 Historia narodu polslciego 3. Bd. S. 50), 1203 und 1207
erwarben sie bereits Privilegien von Heinr ich dem Bär t igen , Her-
zog in Schlesien, 1264 ertheilte ihnen Boleslaw, Herzog in Kalisch,
ein eigenes Privilegium, welches Vorschriften über ihren Gerichtsstand,
Religionsübung, persönliche Sicherheit und Freyheit des Handels enthielt,
1334 wurde dasselbe bestätigt, und noch erweitert unter Boleslav,
Urenkel Casimir's I I . An Verfolgungen fehlte es nicht, wiewohl eine
im Mittelalrer gewöhnliche große Judenverfolgung da nie Statt gefunden,
aber einzelne Acte dieses Trauerspiels waren nur zu häufig. 1407 unter
Ladis law Iagel lo 's Negierung überließ sich der erhitzte Pöbel in
Krakau der zügellosesten Wuth, eben so 1464 unter der Regierung
Casimir's I I I . und 1500 unter Johann Albert. Seit 1500 gibt
uns die Geschichte kein Beyspiel, daß das Volk in Masse über sie herge-
fallen wäre, obwohl einzelne Fanatiker, selbst gemüthliche Dichter, nichts
unversucht ließen, um den Unwillen des Pöbels zu reizen. Allein zum
Glücke der I. wurden die Schriften, die sie, um diesen Zweck zu errei:
chen, von Zeit zu Zeit herausgaben, von dem des Lesens unkundigen
Pöbel nicht gelesen und der verdienten Vergessenheit überlassen. Die
Hauptanschuldigung blieb immer die Ermordung von Christenkindern/
und viele Unschuldige, deren Geständnisse man durch die Folter erpresite,
fielen ein Opfer des finstern Zeitgeistes, aber unglaublich fcheinr es und
doch ist es wahr, daß nicht nur 1753, 1759 und 1761, sage siebenzehn-
hundert ein und sechzig! deßhalb gesetzlich autorisirte öffentliche Hinrich«
tungen in Polen geschahen. Die noch vorhandenen Actenstücke sind der
unwiderleglichste Beweis. — Gab es nun auch in Polen keine deutsche
oder spanische allgemeine Judenverfolgung, so wurden doch die Stande«
Verordnungen immer beengender. Nach den Reichsgesetzen durften sie
nicht Pachter, nicht Beamte werden, wurden im Handel sehr beschrankt/
durften keine Märkte auf dem Lande halten, sogar die Ausübung der
Arzneykunde wurde ihnen untersagt, kurz die Verfügungen in dem ohne-
hin stets im Innern zerrissenen, durch Factionen gespaltenen Reiche wur-
den für dieI. immer drückender, lähmten jeden kühneren Aufflug, verhin-
derten jede Amalgamirung und beförderten so — anstatt daß eine weisere
Gesetzgebung möglichst entgegenzuarbeiten versucht hatte — jenen noch
heut zu Tage nicht verschwundenen Separatismus, wozu sie sich ohnehin
Österreichische National-Enzyklopädie
Buchstabe I-M, Band 3
- Titel
- Österreichische National-Enzyklopädie
- Untertitel
- Buchstabe I-M
- Band
- 3
- Autoren
- Franz Gräffer
- Johann Czikann
- Verlag
- H. Strauß
- Ort
- Wien
- Datum
- 1835
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 13.3 x 22.0 cm
- Seiten
- 768
- Schlagwörter
- Nachschlagewerk, Biografien
- Kategorien
- Lexika National-Enzyklopädie