Seite - 20 - in Der Zweite Weltkrieg in postsozialistischen Gedenkmuseen - Geschichtspolitik zwischen der ‚Anrufung Europas‘ und dem Fokus auf ‚unser‘ Leid
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Während also Gedächtnistheorie und das Konzept der Geschichtspolitik den
memoryboomzufassenversuchten,erreichtedieseraufeuropäischerEbeneeinen
ersten Höhepunkt. Für die ‚Europäisierung23 der Erinnerung‘war das entschei-
dende Jahr 1995, in dem sich das Kriegsende 1945 zum 50.Mal jährte. Diese
‚Europäisierungder Erinnerung‘kannverstandenwerdenals „Prozessder re-
lativierendenTransformationdernationalenPerspektiven,als strukturelleVerän-
derung undAngleichung der Geschichtsbilder im Sinne einer Anreicherungmit
europäischenBezügen.“ (Schmid2008b,178)Zunächstsprachbeiderersteneuro-
päischenGedenkveranstaltung imFebruar 1995 der Präsident des Europäischen
Parlaments KlausHänsch– eindeutscher Sozialdemokrat und schlagender Bur-
schenschafter, dessen Familie 1945 aus Schlesien geflohenwar– anlässlich des
Bombardements von Dresden davon, dass das Leiden deutscher Zivilisten mit
jenemder Bevölkerung von Coventry, Leningrad oder Rotterdam zu vergleichen
sei. (Calligaro2015, 338)DochMittedes Jahres setzte imeuropäischenParlament
eineEntwicklungein,die zuBeginndesneuenMillenniums ihrenHöhepunkter-
reichensollte: die„EuropäisierungdesHolocaust“24, verstandenals „theprocess
of construction, institutionalization, and diffusion of beliefs regarding theHolo-
caustaswellasformalandinformalnormsandrulesregardingHolocaustremem-
branceandeducationthathavebeenfirstdefinedandconsolidatedataEuropean
levelandthenincorporatedintothepracticesofEuropeancountries.“ (Kucia2016,
100) Pakier undWawrzyniak (2015, 4) sprechen in diesem Zusammenhang im
Sinne der Verknüpfung von politischen und wissenschaftlichen Entwicklungen
23 ‚Europäisierung‘ imAllgemeinenmeinthier den „Prozessdes europäischMachens“: staatli-
che, gesellschaftliche und individuelle AkteurInnen „reagieren keinesfalls nur auf kulturellen
Anpassungsdruck,dervonderpolitischenundökonomischen IntegrationderEUausgeht.Viel-
mehr agieren sie selbst und treiben Europäisierungsprozesse an,modifizieren oder blockieren
diese.“ (Kaiser,KrankenhagenundPoehls2015,13)
24 ZunächstmeintdiesdieErkenntnis,dassderHolocaustauchandereeuropäischeStaatenals
Deutschland betrifft: „Dadurch, dass in den vergangenen Jahren Stück für Stück aufgedeckt
wurde, dass hinter der deutschen Vernichtungsmaschinerie ein Kranz europäischer Staaten –
zumindesteinTeil ihrerpolitischenEliten–gewissermaßenarbeitsteiliganderDiskriminierung,
AusplünderungundErmordungder europäischen Judenbeteiligtwar, dientDeutschlandnicht
mehr als ausschließliche Projektionsfläche für die Verantwortung für denHolocaust.“ (Probst
2003,230)MeilensteinehierfürwarendieDiskussionumdieRollederSchweizerBankenbeider
‚Verwaltung‘desNazi-Golds, dieDebatteumdieKollaborationspolitik etwadesVichy-Regimes
inFrankreich, die Schadenersatzforderungen für Zwangsarbeit undEnteignunggegenüber ver-
schiedenenUnternehmenundBanken inEuropasowiedieerst jetzt insöffentlicheBewusstsein
getretenen Informationen über die eigenständige Organisation antisemitischer Pogrome und
Morde,etwaineinigenpolnischenGegenden(Stichwort Jedwabne).
20 2 TheoretischeEinbettung
Der Zweite Weltkrieg in postsozialistischen Gedenkmuseen
Geschichtspolitik zwischen der ‚Anrufung Europas‘ und dem Fokus auf ‚unser‘ Leid
- Titel
- Der Zweite Weltkrieg in postsozialistischen Gedenkmuseen
- Untertitel
- Geschichtspolitik zwischen der ‚Anrufung Europas‘ und dem Fokus auf ‚unser‘ Leid
- Autor
- Ljiljana Radonić
- Verlag
- DE GRUYTER
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-11-072205-5
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 338
- Schlagwörter
- Gedenkmuseen, postsozialistische Transformationsprozesse, Zweiter Weltkrieg, Europäisierung der Erinnerung, Universalisierung des Holocaust, Geschichtspolitik
- Kategorien
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
- Geschichte Nach 1918