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runden klirrenden Portokassen, Waagen und Gewichte, schwarze, blaue, rote
und tintenviolette Bleistifte, Spangen und Klammern, Spagat, Siegellack,
Wasserschwamm und Löschwiege, Gummiarabikum, Messer, Schere und
Falzbein, das ganze vielfältige Handwerkszeug postalischen Dienstes knüllt
sich auf der ellbogenengen Fläche des Schreibtisches gefährlich wirr
durcheinander, und in den vielen Laden und Kasten schichtet sich
unbegreifliche Fülle immer anderer Papiere und Formulare. Aber das
scheinbar Verschwenderische dieser Ausbreitung ist in Wahrheit nur
Augentrug, denn im geheimen zählt der Staat jedes Stück seiner billigen
Utensilien unerbittlich mit. Vom abgeschriebenen Bleistift bis zur zerrissenen
Marke, vom ausgefransten Löschblatt bis zur weggeschwemmten Seife in der
blechernen Waschschüssel, von der Glühbirne, die den Amtsraum beleuchtet,
bis zum Eisenschlüssel, der ihn verschließt, fordert das Ärar von seinen
Angestellten für jedes benutzte oder verbrauchte Stück der Einrichtung
unerbittlich Rechenschaft. Neben dem eisernen Ofen hängt, mit
Schreibmaschine geschrieben, amtlich gestempelt und von unleserlicher
Unterschrift bekräftigt, ein ausführliches Inventar, das das Vorhandensein
auch des geringsten und wertlosesten Betriebsgegenstandes des betreffenden
Postamtes mit arithmetischer Unerbittlichkeit bezeichnet. Kein Gegenstand
darf im Dienstraum Hausung halten, den dieses Verzeichnis nicht enthält, und
umgekehrt, jedes Stück, das er einmal gezählt hat, muß vorhanden und
jederzeit faßbar sein. So will es das Amt, die Ordnung und die Rechtlichkeit.
Strenggenommen müßte in diesem schreibmaschinierten
Gegenstandsverzeichnis auch der Jemand verzeichnet sein, der alltäglich
morgens um acht Uhr die Glasscheibe hochzieht und die bisher leblosen
Utensilien in Bewegung setzt, der die Postsäcke öffnet, die Briefe stempelt,
die Anweisungen auszahlt, die Empfangsscheine schreibt, die Pakete wiegt,
der die blauen, die roten, die tintenfarbigen Stifte und merkwürdigen
Geheimzeichen über das Papier laufen läßt, der vom Telefon den Hörer befreit
und dem Morseapparat die Spule ankurbelt. Aber aus irgendeiner Art
Rücksichtnahme ist dieser Jemand, vom Publikum meist als Postassistent
oder Postmeister angesprochen, auf der Pappliste nicht verzeichnet. Sein
Name stehtauf einem andern Dienstblatt registriert, und dieses liegt in einer
andern Lade, einer andern Abteilung der Postdirektion, aber gleicherweise in
Evidenz gehalten, revidiert und kontrolliert.
Innerhalb dieses, durch den Amtsadler geheiligten Dienstraums ereignet
sich niemals sichtbare Veränderung. An der ärarischen Schranke zerschellt
das ewige Gesetz von Werken und Vergehen; während außen um das Haus
Bäume blühen und wieder kahl werden, Kinder aufwachsen und Greise
sterben, Häuser zerfallen und in andern Formen wieder erstehen, erweist das
Amt seine bewußt überirdische Gewalt durch zeitlose Unabänderlichkeit.
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Rausch der Verwandlung
- Titel
- Rausch der Verwandlung
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1982
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 204
- Kategorien
- Weiteres Belletristik